Zürich — Mit immer neuen Tricks umgehen Firmen die aus Thomas Minders Abzockerinitiative entstandene Verfassungsbestimmung, wonach Antritts- und Abgangsentschädigungen verboten sind. Allen voran der Versicherungskonzern Zurich. Sein abgesetzter Chef Martin Senn erhält im Jahr 2018 bis zu 7,2 Millionen Franken in Form von Aktien. Dies sei Teil eines Bonusprogramms, das «auf die langfristige Wertschöpfung» ausgerichtet sei, begründet der Konzern. Dabei kann Senn die Leistung gar nicht mehr beeinflussen — er musste im Dezember den Hut nehmen.
«Das ist nichts anderes als eine Abgangsentschädigung auf Raten», kritisiert Minder. «Dabei heisst es in der Verfassungsbestimmung ganz klar, dass solche Zahlungen untersagt sind.» Schuld sei der Bundesrat, der eine löchrige Übergangsverordnung in Kraft gesetzt habe. Im Besonderen Justizministerin Simonetta Sommaruga, die noch immer keinen Gesetzesentwurf vorgelegt habe.
Eine wachsende Zahl von Unternehmen macht sich diese Gesetzeslücke zunutze. Sie erfinden immer neue Begriffe, um das Verbot von Antritts- und Abgangsentschädigungen zu umgehen. Der Zementkonzern Holcim zahlte bestimmten Managern eine Halteprämie von total 11,1 Millionen Franken, damit sie bis zur Fusion mit Lafarge im Unternehmen bleiben. Der neue Chef des Industriekonzerns Sulzer bekam zum Antritt 3,4 Millionen. Und der gescheiterte Ex-Chef des Reisekonzerns Kuoni wird 2016 mindestens 3,3 Millionen kassieren — obwohl er das Unternehmen längst verlassen hat.
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Zürich — 7,2 Millionen Franken in Form von Aktien. So viel kann Martin Senn, der im Dezember unter dem Druck unzufriedener Investoren abrupt zurückgetretene Chef des Versicherungskonzerns Zurich, im Jahr 2018 erhalten. Die potenzielle Millionenvergütung sei Teil des Bonusprogramms zur Motivation von Führungspersonal durch Schaffung lang anhaltender Leistungsanreize, sagt ein Sprecher. «Die Ziele des Long Term Incentive Plan sind auf die langfristige Wertschöpfung ausgerichtet.»
Doch Senn kann die Leistung des Konzerns gar nicht beeinflussen, da er nicht mehr an Bord ist. Die Stimmrechtsberater des kritischen Anlagefonds Ethos empfehlen darum, den Vergütungsbericht an der Generalversammlung vom 30. März abzulehnen. Es gehe nicht an, dass Senn vom leistungsabhängigen Hebel von bis zu 200 Prozent profitieren könne, da er zur Leistung der Zurich nichts mehr beitrage.
Bei einer Neuanstellung während der einjährigen Kündigungsfrist werde Senns Vergütung um den entsprechenden Betrag aus dem neuen Arbeitsverhältnis gekürzt, beschwichtigt der ZurichSprecher. Bei der definitiven Übertragung der Aktien, die ihm Anfang letzten Jahres in bedingter Form zugeteilt wurden, kommt ein leistungsabhängiger Multiplikator zum Zug, der von 0 bis 200 Prozent reiche. Senn kann also leer ausgehen, wenn der Konzern nicht auf Touren kommt.
Das täuscht nicht darüber hinweg, dass das Unternehmen das Verbot von Abgangsentschädigungen umgeht, das seit der Annahme der Abzockerinitiative in der Bundesverfassung verankert ist. Darin heisst es: «Die Organmitglieder erhalten keine Abgangs- oder andere Entschädigung, keine Vergütung im Voraus, keine Prämie für Firmenkäufe und -verkäufe.»
Zurich ist nicht der einzige Konzern, der das Verbot umgeht. Der Zementhersteller Holcim hat vor der Fusion mit Lafarge ausgewählten Mitgliedern der Konzernleitung und des oberen Managements eine «Halteprämie» von insgesamt 11,1 Millionen Franken ausbezahlt, damit sie bis zur Fusion im Unternehmen bleiben. Das geht aus dem Geschäftsbericht hervor, den Lafarge-Holcim diese Woche veröffentlicht hat.
Alleine Holcim-Chef Bernard Fontana, der das Unternehmen im Juli 2015 verlassen musste, erhielt einen Bonus von 4,97 Millionen Franken, einen guten Teil davon als Halteprämie. Doch warum soll einer der bestbezahlten Schweizer Manager, der im Vorjahr 5,2 Millionen Franken verdiente, darüber hinaus noch eine Halteprämie bekommen? Fontana sei für das Gelingen der Fusion wichtig gewesen, begründet der Konzernchef von Lafarge-Holcim, Eric Olsen. Laut einem Sprecher haben nebst Fontana alle sechs weiteren Mitglieder der damaligen Konzernleitung eine Halteprämie erhalten. Bei drei Mitgliedern wäre diese indes nicht nötig gewesen: Sie sind aktuell in der Konzernleitung von Lafarge-Holcim.
Millionenschwere Tricks wie bei Zurich und Holcim sind möglich, weil es bis heute kein Gesetz gibt, das die von Thomas Minder durchgedrückte Verfassungsbestimmung umsetzt. Die Übergangsverordnung des Bundesrats setzt die Abzockerinitiative trotz des eindeutigen Volkswillens nicht vollständig um. Antrittsboni etwa sind weiterhin zugelassen. Das macht sich unter anderem der Industriekonzern Sulzer zunutze. Er zahlte seinem neuen Konzernchef Greg Poux-Guillaume zum Amtsantritt 3,4 Millionen Franken. Davon werden 2,9 Millionen ausgewiesen als «Ersatzprämien, um verfallene vertragliche Ansprüche bei früheren Arbeitgebern infolge des Eintritts bei Sulzer zu kompensieren». Solche Zahlungen sind bei immer mehr Firmen üblich.
Das Thema der verdeckten Antrittsprämien wird am Donnerstag grosse Wellen schlagen. Dann veröffentlicht die Credit Suisse ihren Vergütungsbericht, in dem sie darlegen muss, wie hoch der «garantierte Bonus» ist, den Konzernchef Tidjame Thiam erhalten hat. Auf welchen Anteil hat er «freiwillig» verzichtet? Warum erhält er überhaupt einen Bonus, wenn der Konzern einen Verlust von 2,9 Milliarden Franken eingefahren hat? Und vor allem: Wie viel zahlt ihm die Bank als Entschädigung für den finanziellen Nachteil, den er durch seinen freiwilligen Abgang beim Versicherungskonzern Prudential erlitten hat? Die Nervosität der Verantwortlichen ist spürbar.
Beim Reisekonzern Kuoni ist ebenfalls keine Bescheidenheit bei den Bezügen sichtbar — obwohl angesichts des happigen Jahresverlustes von 294 Millionen Franken, des verlustbringenden Verkaufs des Reiseveranstaltergeschäfts und des absehbaren Endes von Kuoni alles dafür sprechen würde.
Fliesst deshalb nun weniger Geld an die Verantwortlichen? Fehlanzeige. Für den früheren Konzernchef Peter Meier, der im November 2015 des Amtes enthoben wurde, entpuppt sich der Verkauf der Kuoni Group an die schwedische Beteiligungsgesellschaft EQT, zu dem er nichts beigetragen hat, sogar als Glücksvfall. Denn er kann nun alle Aktienzuteilungen aus den letzten drei Jahren vorzeitig beziehen und sie zum offerierten Preis von attraktiven 370 Franken verkaufen. So kommt für den untätigen Ex-Chef eine stattliche Summe zustande.
Meier steht noch bis November auf der Lohnliste. Dafür kassiert er dieses Jahr ein Grundgehalt von 917'000 Franken. Auch der kurzfristige Bonus im Wert von 438'000 Franken wird ihm ausbezahlt. Und das, obwohl im Geschäftsbericht festgehalten ist, dass dieser «eine Leistungsmessgrösse darstellt, die spezifisch, quantifizierbar und eine Herausforderung ist». Fragt sich: Was soll Meier leisten, wenn er gar nicht mehr im Amt ist?
Zählt man die von Kuoni offengelegte Zahl der an Meier zugeteilten Aktien aus dem langfristigen Anreizprogramm und dem Programm für aufgeschobene Vergütungen zusammen und multipliziert sie mit dem Preis von 370 Franken pro Titel, kommt die Summe von mindestens 3,3 Millionen Franken zusammen, die mitsamt Grundvergütung dieses Jahr an Peter Meier fliesst.
Im Geschäftsbericht steht, das langfristige Anreizprogramm solle «die Konzernleitung für ihren Beitrag zum langfristigen Erfolg des Unternehmens und zur Schaffung von Aktionärswert belohnen». Und: «Die aufgeschobene Vergütung koppelt die Entschädigung von Führungskräften an die Schaffung eines Mehrwerts für die Aktionäre und unterstützt die Bindung der Konzernleitungsmitglieder an das Unternehmen.»
Im Fall des entlassenen Managers Meier macht das wenig Sinn. Bei den Nochaktionären hält sich die Freude am Vergütungsbericht deshalb in Grenzen. «Wir werden das sicher sehr kritisch anschauen», sagt Ethos-Direktor Vincent Kaufmann.
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Bern — Am 3. März 2013 wurde die Abzockerinitiative des Schaffhauser Ständerats und Unternehmers Thomas Minder mit einem Ja-Stimmen-Anteil von 67,9 Prozent angenommen. Doch in ein Gesetz gegossen wurde die Verfassungsbestimmung noch immer nicht.
Herr Minder, zunehmend umgehen Firmen das von Ihnen durchgesetzte Verbot von Antritts- und Abgangsentschädigungen. Ihre Reaktion?
Das ist eine bodenlose Frechheit. Die Initiative sah wortwörtlich vor, solcherlei Hintertürchen zu schliessen. Jetzt erfinden die Firmen immer neue Begriffe, um doch Antritts- und Abgangszahlungen zu leisten. Das ist ein eindeutiger Verfassungsbruch.
War es nicht eine Illusion, zu glauben, man könne alle Tricks verbieten?
Ich sehe das anders. Schuld ist der Bundesrat. Seine Übergangsverordnung von Anfang 2014 ist löchrig wie ein Emmentaler. Sie lässt Antrittsboni ausdrücklich zu, obwohl der neue Verfassungsartikel sie ausschliesst.
Der abgesetzte Zurich-Chef Martin Senn kann 2018 Aktien im Maximalwert von 7,2 Millionen Franken erhalten, obwohl er dann schon längst weg ist. Was halten Sie davon?
Das ist nichts anderes als eine Abgangsentschädigung auf Raten. Dabei heisst es in der Verfassungsbestimmung ganz klar, dass solche Zahlungen untersagt sind. Es kommt doch nicht darauf an, wie man diese 7,2 Millionen benennt, zumal die Initiative bewusst vorsah, dass jede «andere Entschädigung» dieser Art verboten ist — ob sie jetzt Kontrollprämie, goldener Fallschirm, Karenzentschädigung oder wie auch immer heisst.
Immer mehr Firmen zahlen neu eingestellten Managern eine Entschädigung für entgangene Ansprüche beim vorherigen Arbeitgeber. Hat das nicht seine Berechtivvvgung?
Überhaupt nicht. Eine Entschädigung für entgangene Boni zu zahlen, um jemanden einer anderen Firma abzuluchsen, ist absurd. Es muss doch nicht die neue Firma für einen falschen Anreizplan der alten Firma hinstehen. Überdies verlangt auch hier die Initiative schwarz auf weiss: «Die Organmitglieder erhalten keine Vergütung im Voraus.»
Ihre Initiative läuft ins Leere. Was läuft schief?
Es ist stossend, dass es noch immer kein Gesetz gibt, das die Abzockerinitiative umsetzt. Bundesrätin Sommaruga betreibt Arbeitsverweigerung. Die Initiative wurde vor drei Jahren angenommen, und noch immer liegt vom Justiz- und Polizeidepartement kein Gesetzesentwurf vor. Das ist ein Armutszeugnis. Die Umsetzung wurde in die hängige Aktienrechtsrevision verpackt, die vom Parlament vielleicht in drei Jahren abgesegnet wird. Falls sie das Volk ablehnt, wird es auch in fünf Jahren noch kein ausführendes Gesetz geben.
Was dann? Werden Sie eine Durchsetzungsinitiative zur Abzockerinitiative lancieren?
Ich will nicht drohen. Aber ich kann jeden verstehen, der eine Durchsetzungsinitiative zu seinem Volksbegehren startet, das vom Volk angenommen wurde, aber von Regierung und Parlament missachtet wird.
Welche politischen Folgen hat es, wenn die Unternehmen die Abzockerinitiative umgehen?
Die Wirtschaft klagt immer über zu viel Regulierung. Aber wenn sie überbordet, muss sie nicht überrascht sein, wenn wieder eine Volksinitiative kommt, welche die Freiheit der Unternehmen weiter einschränkt. Das ist dann schlicht und einfach selbst verursacht.
Peter Burkhardt
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Zürich — Zürich Anfang Februar nahm er in der SonntagsZeitung Stellung zur Übernahme des Agrarkonzerns Syngenta durch die chinesische Chemchina, vor drei Wochen gab er ein Interview im «SonntagsBlick». Daniel Vasella versucht sein Comeback in der Schweiz. «Ich habe auch Fehler gemacht, das ist ganz klar», sagt er. Er habe «völlig unterschätzt, wie explosiv die Stimmung im Umfeld der Minder-Initiative war». 2013, kurz vor der Abstimmung zur Abzockerinitiative, war bekannt geworden, dass der abtretende Novartis-Chef 72 Millionen Franken als Abgeltung für eine sechsjährige Konkurrenzklausel in Anspruch nehmen wollte. Eine Welle der Empörung verhalf der Initiative zur Annahme, führte zur Annullierung des Vertrags und trieb Vasella ins Exil. In der Schweiz gesellschaftlich gemieden, zog er in die USA und später nach Monaco. Jetzt kehrt er zurück und zahlt wieder Steuern in Risch ZG.
Ob ihm das Comeback gelingt, ist offen. Manager, die, nachdem sie ihr Unternehmen an den Rand des Abgrunds geführt haben, ohne entsprechende Leistung Millionen kassieren, gelten als Abzocker. Sie haben finanziell ausgesorgt, bleiben aber oft gesellschaftlich geächtet. Kein Zurück gab es etwa für Marcel Ospel. Als UBS-Verwaltungsratspräsident kassierte er ein Jahressalär von 26,6 Millionen Franken. Seine riskante Wachstumsstrategie in den USA führte ins Desaster. In der Finanzkrise 2008 musste die UBS von der Nationalbank vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Danach zahlte die Bank Milliarden an Bussen für die Beihilfe zur Steuerhinterziehung von US-Kunden. Ospel hat sich völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und gilt in manchen Kreisen nach wie vor als Persona non grata.
Wie Vasella haben auch andere Manager nach ihrem Sturz das Land verlassen, sind aber nicht mehr zurückgekehrt. Mario Corti, der letzte Chef der Swissair vor dem Grounding, hatte sich 2001 das Salär von 12,5 Millionen schon vor Amtsantritt auszahlen lassen. Die Empörung darüber konnte er nicht verstehen. In seiner Enttäuschung über das Ausbleiben einer Swissair-Rettung zog er in die USA.
Rolf Hüppi hatte seit 1995 als Verwaltungsratspräsident und Konzernchef mit der Zurich Financial Services einen riskanten Expansionskurs gefahren und auf eine Allfinanzstrategie gesetzt. 2002 ging er von Bord — mit einer Abgangsentschädigung von 5 Millionen Franken. Sein Nachfolger musste die Altlasten beseitigen, 4500 Stellen abbauen und einen Rekordverlust von 3,4 Milliarden Franken verbuchen. Hüppi wanderte in die USA aus und startete 2007 das Mikroversicherungsinstitut Paralife. Ihm machte es Hans Vögeli nach. Der frühere Chef der Zürcher Kantonalbank musste 2007 den Hut nehmen. Obwohl sie die Hausbank des Maschinenkonzerns Sulzer war, hatte die ZKB dem russischen Milliardär Viktor Vekselberg und der österreichischen Beteiligungsgesellschaft Victory zur Machtübernahme in Winterthur verholfen. Vögeli hatte zudem auch noch privat mit Sulzer-Aktien spekuliert. Er lebt heute im US-Bundesstaat Nevada.
Aus der Öffentlichkeit, aber nicht aus der Schweiz zurückgezogen hat sich Lukas Mühlemann. Der Ex-Chef der Credit Suisse musste 2002 zurücktreten, nachdem die Bank in Schieflage geraten war. Sie machte 3,3 Milliarden Verlust, aber Mühlemann kassierte bei seinem Abgang 17 Millionen Franken.
Ausgelöst wurde die Abzockerdebatte in der Schweiz Anfang 2002 durch die ABB-Manager Percy Barnevik und Göran Lindahl. Bei ihrem Ausscheiden aus der Firma kassierten sie 233 Millionen Franken, obwohl sie ABB beinahe ruiniert hatten. 90 Millionen zahlte Barnevik schliesslich zurück. Kurz danach deckte die SonntagsZeitung die Machenschaften an der Spitze der Swiss Life auf. Die Chefs um Manfred Zobl und Roland Chlapowski hatten 1999 bis 2002 unzulässige Aktiendeals auf eigene Rechnung organisiert.
Armin Müller
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