Der Weiler «Im Loch» nahe Wila: Hier wurden die beiden kleinen Mädchen misshandelt.
Es geschah hinter verschlossener Tür. Niemand sah, welch grausame Strafen die kleinen Mädchen, Salome, 7, und ihre Halbschwester Gabriela, 4, erleiden mussten. Wie sie mit dem hölzernen Kochlöffel geschlagen wurden, wie sie von Kopf bis Fuss mit kaltem Wasser abgeduscht wurden, wie sie ruhig sitzen oder ruhig stehen mussten, die Hände mit Klebeband an der Wand befestigt, bis zu 24 Stunden lang, wie sie bis zur Erschöpfung die Treppe rauf und runter steigen, auf- und absitzen mussten, wie sie auf dem nackten Boden schliefen, ohne Kissen, ohne Decke. Dass sie hungern mussten.
Niemand hat es gesehen, viele aber haben geahnt, dass in diesem Haus «etwas Schlimmes passierte». Nachbarinnen, Lehrerinnen, eine Kindergärtnerin, der Hausarzt, sie alle schilderten vergangene Woche vor dem Geschworenengericht Zürich, was sie bis 9. Mai 2006 beobachtet hatten – bis zum Tag, an dem die kleine Gabriela mit der Rega ins Kinderspital geflogen wurde, wo sie Stunden später ihren schweren Hirnverletzungen erlag. Bis 17. Dezember wird im Gerichtssaal die rechtliche Verantwortung für den Tod des Mädchens geklärt — ebenso im Raum steht jedoch die Frage, weshalb den Kindern niemand geholfen hat.
Auf der Anklagebank sitzen Marc W., 44, der Vater der Mädchen, und Barbara N., 62, pensionierte Sozialpädagogin. Ihnen wird mehrfache schwere Körperverletzung vorgeworfen, es drohen bis zu 10 Jahre Gefängnis. Lea K., 26, die damalige Lebensgefährtin von Marc W., wird sich im kommenden Jahr vor Gericht verantworten müssen. Die Studentin ist der vorsätzlichen Tötung angeklagt, sie soll Gabriela massiv geschüttelt haben, was schliesslich zum Tode führte.
Marc W. wirkt äusserst selbstgerecht, die jahrelangen Misshandlungen bestreitet er nicht, einer Schuld ist er sich aber nicht bewusst: «Vor Gott bin ich unschuldig», sagt er mehrmals, «wenn mich das weltliche Gericht verurteilt, muss ich das akzeptieren.» Die langen Haare hat er zusammengebunden, sein Gesicht ist kantig, die Lippen schmal, die Augen hart. Er ist gross, athletisch, die Ärmel hat er hochgekrempelt. Arme, die anpacken könnten. Marc W. hat kaum je gearbeitet. «Wann zuletzt?», fragt Gerichtspräsident Pierre Martin. Er muss lange überlegen, «1994», sagt er schliesslich. Danach habe er voll und ganz auf Gott vertraut. Jesus ist für mich da, hat anderes mit mir vor. Er habe viel gebetet, die Bibel gelesen, gewartet, Sport getrieben, gelebt, «eifach gsii». Und viel gekifft.
Seinen Lebensunterhalt haben andere bezahlt, allen voran Barbara N. Die kalt, emotionslos scheinende Frau, die bis zu ihrer Entlassung in einem Pestalozzihaus arbeitete, sagt: «Marc erzieht gut, ich habe viel von ihm gelernt.»
1998 zog er zu ihr nach Wila ins Zürcher Oberland, ein Dorf mit rund 1900 Einwohnern. «Im Loch» lautete die Adresse im Weiler nahe Wila. «Dort, wo es im Winter kalt und dunkel ist», wie eine frühere Bewohnerin sagt. Ein paar Flarzhäuser nur, man wohnte eng, Seite an Seite, Rücken an Rücken. Eine Nachbarin, schildert: «Wenn wir längere Zeit auf der Toilette sassen, waren wir halb bekifft.» Ein Baupfusch, mit der Lüftung habe etwas nicht gestimmt: «Wie muss es wohl erst im Hausteil der Angeklagten gerochen haben?» Man habe ihn «Heiland», «Oberguru» genannt. Alle habe er mit seinen Gottesgeschichten genervt.
Marc W. lebt nach den Worten des Õsterreichers Jakob Lorber (1800 bis 1864), «Schreibknecht Gottes», nennen ihn seine Anhänger. Was Lorber über Kindererziehung zu Papier brachte, bekamen Salome und Gabriela mit voller Härte zu spüren: Gehorsam lernen! Gott will Demut! Nur wer die Kinder züchtigt, der liebt sie auch! Solange das Bäumchen noch wächst, kann man es biegen!
Nie hätten sie gesehen, wie er seine Mädchen plagte, sagen die Frauen im Weiler. «Geh rein!», habe er jeweils kommandiert. Ein kurzes Weinen habe man noch gehört, dann sei es ganz still geworden. Von ihrem Arbeitszimmer aus habe sie alles mitbekommen, sagt eine Hausfrau, 55. Die Kinder hätten kaum draussen sein dürfen, Spielzeug hätten sie keines gehabt. Mehrmals, als sie ihre eigenen Töchter vom Nachtbus abholte, habe sie Salome nach Mitternacht am Fenster des Badezimmers stehen sehen.
Gabriela sei immer barfuss gewesen: «Man sah, dass es ihr wehtat, aber sie durfte nicht weinen.» An einem heissen Sommertag sei sie stundenlang der prallen Sonne ausgesetzt gewesen, ihre Haut ganz rot, während er unter dem Sonnenschirm mit Getränk in der Hand ein Buch las. Einmal sei Gabriela einen ganzen Nachmittag alleine mit dem wild bellenden Hund im Haus gewesen. Nein, sie habe nicht nachgeschaut, sagt die Hausfrau: «Ich habe Schiss vor Hunden.» Sie sei «gottenfroh», habe Gabriela sterben dürfen, das habe sie an jenem 9. Mai auch dem Polizisten gesagt.
Salome habe häufig um Essen gebettelt, schildert eine weitere Zeugin. Bis Marc W. dahinterkam. Alle Nachbarn berichten, dass Marc W. an ihren Haustüren geläutet hatte, ihnen verbot, sich je wieder einzumischen. Alle erinnern sich an die bösen Augen, die laute Stimme, wie er bedrohlich immer näher kam.
Ein «ungutes Gefühl» hatten auch die Kindergärtnerin und die zwei Lehrerinnen, die Salome im ersten Schuljahr betreuten. Allen fiel auf, dass sie ihren Gspänli den Znüni aus dem Schulsack stibitzte, dass sie hamsterte, wenns etwas zu essen gab. Selbst der Lehrerin stahl sie ein Stück Kuchen. Darauf angesprochen, habe Salome gefleht, bitte dem Vater nichts davon zu sagen. Sonst müsse sie wieder die ganze Nacht im dunklen Zimmer stehen. Alle stellten fest, dass sie unter riesigem Druck stand. Kaum läutete die Glocke, sprang sie auf, wollte unbedingt los. Kam sie zu spät nach Hause, gabs keinen Zmittag.
Die Kindergärtnerin und die Lehrerinnen hatten sich über Monate Notizen gemacht, festgehalten, was ihnen an Salome aufgefallen war. Der damalige Präsident der Primarschulpflege Wila sagt: «Signale, dass das Kindeswohl gefährdet ist, waren da.» Nach anderthalb Jahren wurde die Kinderschutzgruppe informiert. Sie kam im März 2006, wenige Wochen vor Gabrielas Tod, zum Schluss, die Faktenlage sei zu dünn, um die Vormundschaftsbehörde zu alarmieren. Man wollte weitere Beweise sammeln.
Marc W. brachte die Mädchen nie zum Kinderarzt, nur einmal zum Ohrenarzt: «Ich war nicht sicher, ob Gabriela nicht hörte oder nur nicht hören wollte.» Auch der Hausarzt im Dorf hatte Gabriela nie gesehen. Ihre ältere Schwester Salome habe er zweimal untersucht. Nichts sei ihm aufgefallen. Allerdings habe ihm seine Tochter erzählt, dass Salome in der Schule um Essen bettle und nie an Schulveranstaltungen teilnehmen dürfe, «das fand ich seltsam». Mit dem Schulleiter kam er überein, Salome bei der nächsten Gelegenheit auf Spuren von Kindsmisshandlung zu überprüfen. Die Gelegenheit ergab sich nicht. Er war es, der die tote Gabriela am 9. Mai 2006 «splitternackt vor der Treppe liegend» vorfand. Marc W. und Lea K. hatten vorgetäuscht, das Mädchen sei die Treppe heruntergefallen.
Der behandelnde Arzt im Kinderspital sagt vor Gericht: «In den über 20 Jahren auf der Intensivstation habe ich noch nie etwas so Schlimmes gesehen.» Schwerste Zeichen von Misshandlung, Hirnverletzungen, alte und neue Blutergüsse und: «Grotesk, diese Abmagerung, absolut grotesk, das vergisst man nie.» Das Untergewicht sei so massiv gewesen, dass es jedem Laien aufgefallen wäre. Die knapp 5-jährige Gabriela wog 12 Kilo, was dem Gewicht einer Zweijährigen entspricht.
Noch heute behauptet Marc W.: «Gabriela war klipp und klar nicht unterernährt, keine Sekunde lang.» Alle im Gerichtssaal haben das an die Wand projizierte Foto des toten Kindes gesehen, die dünnen Ãrmchen, die Beinchen. Marc W. sagt: «Ich bin ein schlanker Typ, das hat sie von mir.» Es stimme, in den letzten zwei, drei Wochen sei Gabriela geschwächt gewesen, etwas angeschlagen. «Sie hätte halt nicht trotzen sollen. Nicht provokativ in die Hosen machen.» Er redet von einem Machtkampf mit dem kleinen Mädchen. «Sie wusste, wo sie mich packen kann, dort hat sie eingehängt.» Dieser Machtkampf habe sich in den letzten Wochen zugespitzt. Machte sie in die Hose, wurde sie kalt geduscht. Viele Nächte musste sie auf dem harten Zwischenboden schlafen, er hatte es satt, dass sie die Matratze nässte. Dennoch behauptet er: «Meine Kinder schliefen wie Herrgöttli.»
Auch die beiden Mütter der Mädchen sind als Zeugen vorgeladen. Beide haben ihr Kind im Alter von wenigen Monaten dem Vater überlassen. Salomes Mutter, 55, würde es wieder tun, sie spricht von «Züchtigung in Liebe». Die Mutter der toten Gabriela, 42, sagt: «Verletzungen sind mir keine aufgefallen. Doch klein kam sie mir vor.» Ihr Kind ist tot. Marc W. aber scheint sie vergeben zu haben. Draussen vor dem Gerichtssaal umarmen sich die beiden. Sie tröstet den Mann, der das kurze Leben eines kleinen Geschöpfes zum unfreiwilligen Martyrium machte.
«Signale, dass das Kindeswohl gefährdet ist, waren da» |
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Der Tatort im Zürcher Oberland: Hinter diesen Mauern wurden die Kinder gequält. |
«Vor Gott bin ich unschuldig»: Marc W., der angeklagte Vater der misshandelten Mädchen Gabriela (l.) und Salome (r). | ||
Mitangeklagt: Die ehemalige Sozialpädagogin Barbara N. (l.) und die Studentin Lea K. (r.). |
Der Tatort im Zürcher Oberland: Hinter diesen Mauern wurden die Kinder gequält.
Die beiden Mädchen.
«Vor Gott bin ich unschuldig»:
Marc W., der angeklagte Vater der misshandelten Mädchen
Gabriela (l.) und Salome (r).
Mitangeklagt: Die ehemalige Sozialpädagogin
Barbara N. (l.) und die Studentin Lea K. (r.).
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