Das Grauen im Loch

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Zwei klei­ne Mäd­chen wer­den jah­re­lang vom Va­ter und von zwei Frau­en ge­quält — und nie­mand hat ih­nen ge­hol­fen

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VON CHRIS WIN­TE­LER TEXT UND MI­CHE­LE LI­MI­NA FO­TO
«Im Loch» «Im Loch»

Der Wei­ler «Im Loch» na­he Wi­la: Hier wur­den die bei­den klei­nen Mäd­chen miss­han­delt.

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Es ge­schah hin­ter ver­schlos­se­ner Tür. Nie­mand sah, welch grau­sa­me Stra­fen die klei­nen Mäd­chen, Sa­lo­me, 7, und ihre Halb­schwes­ter Gab­rie­la, 4, er­lei­den muss­ten. Wie sie mit dem höl­zer­nen Koch­löf­fel ge­schla­gen wur­den, wie sie von Kopf bis Fuss mit kal­tem Was­ser ab­ge­duscht wur­den, wie sie ru­hig sit­zen oder ru­hig ste­hen muss­ten, die Hän­de mit Kle­be­band an der Wand be­fes­tigt, bis zu 24 Stun­den lang, wie sie bis zur Er­schöp­fung die Trep­pe rauf und run­ter stei­gen, auf- und ab­sit­zen muss­ten, wie sie auf dem nack­ten Bo­den schlie­fen, oh­ne Kis­sen, oh­ne Dec­ke. Dass sie hun­gern muss­ten.

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Nie­mand hat es ge­se­hen, vie­le aber ha­ben ge­ahnt, dass in die­sem Haus «et­was Schlim­mes pas­sier­te». Nach­ba­rin­nen, Leh­re­rin­nen, eine Kin­der­gärt­ne­rin, der Haus­arzt, sie al­le schil­der­ten ver­gan­ge­ne Wo­che vor dem Ge­schwo­re­nen­ge­richt Zü­rich, was sie bis 9. Mai 2006 be­obach­tet hat­ten – bis zum Tag, an dem die klei­ne Ga­brie­la mit der Rega ins Kin­der­spi­tal ge­flo­gen wur­de, wo sie Stun­den spä­ter ih­ren schwe­ren Hirn­ver­let­zun­gen er­lag. Bis 17. De­zem­ber wird im Ge­richts­saal die recht­li­che Ver­ant­wor­tung für den Tod des Mäd­chens ge­klärt — eben­so im Raum steht je­doch die Fra­ge, wes­halb den Kin­dern nie­mand ge­hol­fen hat.

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Gehor­sam ler­nen! Gott will De­mut! Nur wer die Kin­der züch­tigt, der liebt sie auch!
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Auf der An­kla­ge­bank sit­zen Marc W., 44, der Va­ter der Mäd­chen, und Bar­ba­ra N., 62, pen­sio­nier­te So­zial­pä­da­go­gin. Ih­nen wird mehr­fa­che schwe­re Kör­per­ver­let­zung vor­ge­wor­fen, es dro­hen bis zu 10 Jah­re Ge­fäng­nis. Lea K., 26, die da­ma­li­ge Le­bens­ge­fähr­tin von Marc W., wird sich im kom­men­den Jahr vor Ge­richt ver­ant­wor­ten müs­sen. Die Stu­den­tin ist der vor­sätz­li­chen Tö­tung an­ge­klagt, sie soll Ga­brie­la mas­siv ge­schüt­telt ha­ben, was schliess­lich zum To­de führ­te.

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Marc W. wirkt äus­serst selbst­ge­recht, die jah­re­lan­gen Miss­hand­lun­gen be­strei­tet er nicht, einer Schuld ist er sich aber nicht be­wusst: «Vor Gott bin ich un­schul­dig», sagt er mehr­mals, «wenn mich das welt­li­che Ge­richt ver­ur­teilt, muss ich das ak­zep­tie­ren.» Die lan­gen Haa­re hat er zu­sam­men­ge­bun­den, sein Ge­sicht ist kan­tig, die Lip­pen schmal, die Au­gen hart. Er ist gross, ath­le­tisch, die Är­mel hat er hoch­ge­krem­pelt. Ar­me, die an­pac­ken könn­ten. Marc W. hat kaum je ge­ar­bei­tet. «Wann zu­letzt?», fragt Ge­richts­prä­si­dent Pier­re Mar­tin. Er muss lan­ge über­le­gen, «1994», sagt er schliess­lich. Da­nach ha­be er voll und ganz auf Gott ver­traut. Je­sus ist für mich da, hat an­de­res mit mir vor. Er ha­be viel ge­be­tet, die Bi­bel ge­le­sen, ge­war­tet, Sport ge­trie­ben, ge­lebt, «ei­fach gsii». Und viel ge­kifft.

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Sei­nen Le­bens­un­ter­halt ha­ben an­de­re be­zahlt, al­len vor­an Bar­ba­ra N. Die kalt, emo­tions­los schei­nen­de Frau, die bis zu ih­rer Ent­las­sung in einem Pes­ta­loz­zi­haus ar­bei­te­te, sagt: «Marc er­zieht gut, ich ha­be viel von ihm ge­lernt.»

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1998 zog er zu ihr nach Wi­la ins Zür­cher Ober­land, ein Dorf mit rund 1900 Ein­woh­nern. «Im Loch» lau­te­te die Adres­se im Wei­ler na­he Wi­la. «Dort, wo es im Win­ter kalt und dun­kel ist», wie eine frü­he­re Be­woh­ne­rin sagt. Ein paar Flarz­häu­ser nur, man wohn­te eng, Sei­te an Sei­te, Rüc­ken an Rüc­ken. Eine Nach­ba­rin, schil­dert: «Wenn wir län­ge­re Zeit auf der Toi­let­te sas­sen, wa­ren wir halb be­kifft.» Ein Bau­pfusch, mit der Lüf­tung ha­be et­was nicht ge­stimmt: «Wie muss es wohl erst im Haus­teil der An­ge­klag­ten ge­ro­chen ha­ben?» Man ha­be ihn «Hei­land», «Ober­guru» ge­nannt. Al­le ha­be er mit sei­nen Got­tes­ge­schich­ten ge­nervt.

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Marc W. lebt nach den Wor­ten des Õster­rei­chers Ja­kob Lor­ber (1800 bis 1864), «Schreib­knecht Got­tes», nen­nen ihn sei­ne An­hän­ger. Was Lor­ber über Kin­der­er­zie­hung zu Pa­pier brach­te, be­ka­men Sa­lo­me und Gab­rie­la mit vol­ler Här­te zu spü­ren: Ge­hor­sam ler­nen! Gott will De­mut! Nur wer die Kin­der züch­tigt, der liebt sie auch! So­lan­ge das Bäum­chen noch wächst, kann man es bie­gen!

Nie hät­ten sie ge­se­hen, wie er sei­ne Mäd­chen plag­te, sa­gen die Frau­en im Wei­ler. «Geh rein!», ha­be er je­weils kom­man­diert. Ein kur­zes Wei­nen ha­be man noch ge­hört, dann sei es ganz still ge­wor­den. Von ih­rem Ar­beits­zim­mer aus ha­be sie al­les mit­be­kom­men, sagt eine Haus­frau, 55. Die Kin­der hät­ten kaum draus­sen sein dür­fen, Spiel­zeug hät­ten sie kei­nes ge­habt. Mehr­mals, als sie ihre ei­ge­nen Töch­ter vom Nacht­bus ab­hol­te, ha­be sie Sa­lo­me nach Mit­ter­nacht am Fens­ter des Ba­de­zim­mers ste­hen se­hen.

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Gabriela sei im­mer bar­fuss ge­we­sen: «Man sah, dass es ihr weh­tat, aber sie durf­te nicht wei­nen.» An einem heis­sen Som­mer­tag sei sie stun­den­lang der pral­len Son­ne aus­ge­setzt ge­we­sen, ih­re Haut ganz rot, wäh­rend er un­ter dem Son­nen­schirm mit Ge­tränk in der Hand ein Buch las. Ein­mal sei Gab­rie­la ei­nen gan­zen Nach­mit­tag al­lei­ne mit dem wild bel­len­den Hund im Haus ge­we­sen. Nein, sie ha­be nicht nach­ge­schaut, sagt die Haus­frau: «Ich habe Schiss vor Hun­den.» Sie sei «got­ten­froh», ha­be Gab­rie­la ster­ben dür­fen, das ha­be sie an je­nem 9. Mai auch dem Po­li­zis­ten ge­sagt.

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Sa­lo­me ha­be häu­fig um Es­sen ge­bet­telt, schil­dert eine wei­te­re Zeu­gin. Bis Marc W. da­hin­ter­kam. Al­le Nach­barn be­rich­ten, dass Marc W. an ih­ren Haus­tü­ren ge­läu­tet hat­te, ih­nen ver­bot, sich je wie­der ein­zu­mi­schen. Al­le er­in­nern sich an die bö­sen Au­gen, die lau­te Stim­me, wie er be­droh­lich im­mer nä­her kam.

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Ein «un­gu­tes Ge­fühl» hat­ten auch die Kin­der­gärt­ne­rin und die zwei Leh­re­rin­nen, die Sa­lo­me im ers­ten Schul­jahr be­treu­ten. Al­len fiel auf, dass sie ih­ren Gspän­li den Znü­ni aus dem Schul­sack sti­bitz­te, dass sie hams­ter­te, wenns et­was zu es­sen gab. Selbst der Leh­re­rin stahl sie ein Stück Ku­chen. Dar­auf an­ge­spro­chen, ha­be Sa­lo­me ge­fleht, bit­te dem Va­ter nichts da­von zu sa­gen. Sonst müs­se sie wie­der die gan­ze Nacht im dunk­len Zim­mer ste­hen. Al­le stell­ten fest, dass sie un­ter rie­si­gem Druck stand. Kaum läu­te­te die Gloc­ke, sprang sie auf, woll­te un­be­dingt los. Kam sie zu spät nach Hau­se, gabs kei­nen Zmit­tag.

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Die Kin­der­gärt­ne­rin und die Leh­re­rin­nen hat­ten sich über Mo­na­te No­ti­zen ge­macht, fest­ge­hal­ten, was ih­nen an Sa­lo­me auf­ge­fal­len war. Der da­ma­li­ge Prä­si­dent der Pri­mar­schul­pfle­ge Wi­la sagt: «Sig­nale, dass das Kin­des­wohl ge­fähr­det ist, wa­ren da.» Nach an­dert­halb Jah­ren wur­de die Kin­der­schutz­grup­pe in­for­miert. Sie kam im März 2006, we­ni­ge Wo­chen vor Gab­rie­las Tod, zum Schluss, die Fak­ten­la­ge sei zu dünn, um die Vor­mund­schafts­be­hör­de zu alar­mie­ren. Man woll­te wei­te­re Be­wei­se sam­meln.

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Marc W. brach­te die Mäd­chen nie zum Kin­der­arzt, nur ein­mal zum Oh­ren­arzt: «Ich war nicht sicher, ob Gab­rie­la nicht hör­te oder nur nicht hö­ren woll­te.» Auch der Haus­arzt im Dorf hat­te Gab­rie­la nie ge­se­hen. Ih­re äl­te­re Schwes­ter Sa­lo­me ha­be er zwei­mal un­ter­sucht. Nichts sei ihm auf­ge­fal­len. Al­ler­dings ha­be ihm sei­ne Toch­ter er­zählt, dass Sa­lo­me in der Schu­le um Es­sen bett­le und nie an Schul­ver­an­stal­tun­gen teil­neh­men dür­fe, «das fand ich selt­sam». Mit dem Schul­lei­ter kam er über­ein, Sa­lo­me bei der nächs­ten Ge­le­gen­heit auf Spu­ren von Kinds­miss­hand­lung zu über­prü­fen. Die Ge­le­gen­heit er­gab sich nicht. Er war es, der die to­te Gab­rie­la am 9. Mai 2006 «split­ter­nackt vor der Trep­pe lie­gend» vor­fand. Marc W. und Lea K. hat­ten vor­ge­täuscht, das Mäd­chen sei die Trep­pe her­un­ter­ge­fal­len.

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Al­le er­in­nern sich an die bö­sen Au­gen, die lau­te Stim­me, wie er be­droh­lich im­mer nä­her kam «In über 20 Jah­ren auf der In­ten­siv­sta­tion habe ich noch nie et­was so Schlim­mes ge­se­hen».
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Der be­han­deln­de Arzt im Kin­der­spi­tal sagt vor Ge­richt: «In den über 20 Jah­ren auf der In­ten­siv­sta­tion ha­be ich noch nie et­was so Schlim­mes ge­se­hen.» Schwers­te Zei­chen von Miss­hand­lung, Hirn­ver­let­zun­gen, al­te und neue Blut­er­güs­se und: «Gro­tesk, die­se Ab­ma­ge­rung, ab­so­lut gro­tesk, das ver­gisst man nie.» Das Un­ter­ge­wicht sei so mas­siv ge­we­sen, dass es je­dem Lai­en auf­ge­fal­len wä­re. Die knapp 5-jäh­ri­ge Gab­rie­la wog 12 Kilo, was dem Ge­wicht einer Zwei­jäh­ri­gen ent­spricht.

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Noch heu­te be­haup­tet Marc W.: «Gab­rie­la war klipp und klar nicht un­ter­er­nährt, kei­ne Se­kun­de lang.» Al­le im Ge­richts­saal ha­ben das an die Wand pro­ji­zier­te Fo­to des to­ten Kin­des ge­se­hen, die dün­nen Ãrm­chen, die Bein­chen. Marc W. sagt: «Ich bin ein schlan­ker Typ, das hat sie von mir.» Es stim­me, in den letz­ten zwei, drei Wo­chen sei Gab­rie­la ge­schwächt ge­we­sen, et­was an­ge­schla­gen. «Sie hät­te halt nicht trot­zen sol­len. Nicht pro­vo­ka­tiv in die Ho­sen ma­chen.» Er re­det von einem Macht­kampf mit dem klei­nen Mäd­chen. «Sie wuss­te, wo sie mich pac­ken kann, dort hat sie ein­ge­hängt.» Die­ser Macht­kampf ha­be sich in den letz­ten Wo­chen zu­ge­spitzt. Mach­te sie in die Ho­se, wur­de sie kalt ge­duscht. Vie­le Näch­te muss­te sie auf dem har­ten Zwi­schen­bo­den schla­fen, er hat­te es satt, dass sie die Ma­trat­ze näss­te. Den­noch be­haup­tet er: «Mei­ne Kin­der schlie­fen wie Herr­gött­li.»

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Auch die beiden Müt­ter der Mäd­chen sind als Zeu­gen vor­ge­la­den. Bei­de ha­ben ihr Kind im Al­ter von we­ni­gen Mo­na­ten dem Va­ter über­las­sen. Sa­lo­mes Mut­ter, 55, wür­de es wie­der tun, sie spricht von «Züch­ti­gung in Lie­be». Die Mut­ter der to­ten Gab­rie­la, 42, sagt: «Ver­let­zun­gen sind mir kei­ne auf­ge­fal­len. Doch klein kam sie mir vor.» Ihr Kind ist tot. Marc W. aber scheint sie ver­ge­ben zu ha­ben. Draus­sen vor dem Ge­richts­saal um­ar­men sich die bei­den. Sie trös­tet den Mann, der das kur­ze Le­ben eines klei­nen Ge­schöp­fes zum un­frei­wil­li­gen Mar­ty­rium mach­te.

«Signale, dass das Kindeswohl gefährdet ist, waren da»

Foto Stefan Hohler Marc W.

Der Tatort im Zürcher Oberland: Hinter diesen Mauern wurden die Kinder gequält.

«Vor Gott bin ich un­schul­dig»: Marc W., der an­ge­klag­te Va­ter der miss­han­del­ten Mäd­chen Gab­rie­la (l.) und Sa­lo­me (r).
Die Mädchen
Mitangeklagte
Mit­an­ge­klagt: Die ehe­ma­li­ge So­zial­päda­go­gin Bar­ba­ra N. (l.) und die Stu­den­tin Lea K. (r.).
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«Sig­na­le, dass das Kin­des­wohl ge­fähr­det ist, wa­ren da»

Foto Stefan Hohler

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Der Tatort im Zürcher Oberland: Hinter diesen Mauern wurden die Kinder gequält.

Die Mädchen
Die bei­den Mäd­chen.

Marc W.
«Vor Gott bin ich un­schul­dig»: Marc W., der an­ge­klag­te Va­ter der miss­han­del­ten Mäd­chen Gab­rie­la (l.) und Sa­lo­me (r).

Mitangeklagte
Mit­an­ge­klagt: Die ehe­ma­li­ge So­zial­päda­go­gin Bar­ba­ra N. (l.) und die Stu­den­tin Lea K. (r.).

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