Das doppelte Fiasko
Atomkraftwerke sind nicht nur ökologisch brandgefährlich. Sie sind inzwischen auch volkswirtschaftlich eine Zeitbombe.
Beat Jans ist Umweltnaturwissenschafter ETH und Nationalrat der SP Basel-Stadt. Er ist Mitglied der Umwelt- und Energiekommission sowie der Kommission für Wirtschaft und Abgaben.
Jahrelang wies die SP auf die Risiken der Atomkraftwerke hin. Vergeblich. Nach 40 Jahren laufen sie immer noch, und die Mängellisten werden länger. Was viele aber nicht wissen:
Die AKWs werden auch finanziell zu einer wachsenden Hypothek. Sie fahren inzwischen Verluste ein. Und haben dazu noch grosse Schulden. Auch aus volkswirtschaftlicher Sicht drängt sich eine rasche Schliessung der Werke auf.
Die Preise auf dem europäischen Strommarkt sind eingebrochen und werden sich in nächster Zeit nicht erholen. Dies zeigt sich in den Lieferverträgen, die für Bandenergie im Jahr 2021 auf einem Niveau von 3,3 Rp./kWh abgeschlossen werden.
In den Geschäftsberichten weisen die Betreiber aber variable Produktionskosten von 3,7 Rp./kWh (Leibstadt) und 4,2 Rp./kWh (Gösgen) aus. Zu Beznau gibt es keine öffentlichen Zahlen. Die Kosten dürften dort aber noch höher liegen. Die SP schätzt sie auf etwa 6 Rp./kWh. Jedenfalls decken die Marktpreise aller Schweizer AKWs nicht einmal die Kosten für den Betrieb, geschweige denn die Finanzierung der Investitionen.
Die Betreiber der AKWs hoffen auf bessere Strompreise, wenn Deutschland, wie angekündigt, seine letzten acht Atomkraftwerke schliesst und ein höherer CO2-Preis die europäischen Kohlekraftwerke unrentabel machen sollte. Das wird den Schweizer AKW-Betreibern aber kaum helfen. Denn auf dem europäischen Strommarkt herrschen heute riesige Überkapazitäten, die etwa 100 Atomkraftwerken entsprechen¹).
Nichtsdestotrotz treibt die EU den Zubau von Wind- und Solaranlagen rasch voran. Sie hat ehrgeizige Ausbauziele beschlossen, die sie nur erreicht, wenn sie den Solar- und Windstrom in den nächsten 15 Jahren von 483 TWh auf über 1500 TWh mehr als verdreifacht. Damit nehmen auch die «Gratisstromperioden» zu. Die herrschen dann, wenn zu viel Strom aus Sonne und Wind im Netz ist und somit für Stromverkäufe kein Preis mehr erzielt werden kann. Sie werden von heute ca. 100 bis 2035 auf etwa 3000 Jahresstunden ansteigen¹). Damit bricht den AKW während einem Drittel des Jahres die Einnahmequelle weg.
So werden jedes Jahr Defizite entstehen, die Hunderte von Millionen betragen. Diese Verluste werden in Beznau schon nach sechs Jahren die aktuellen Werte der Anlagen übersteigen. In Gösgen und Leibstadt in etwa zehn Jahren.
Damit wächst die Gefahr, dass die Betreibergesellschaften in Konkurs gehen und ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen können. Sie schulden der Öffentlichkeit etwa 20 Milliarden Franken. So viel kostet der Rückbau und die Entsorgung der radioaktiven Anlagen. Es sind aber erst etwa sechs Milliarden in dem dafür vorgesehenen Finanzierungsfonds. Deshalb muss die Laufzeit der AKWs auch aus wirtschaftlicher Sicht befristet werden, und der Bundesrat muss aufzeigen, wie Entsorgung und Rückbau der hochgefährlichen Abfälle im Konkursfall abgewickelt und finanziert werden sollen.
¹) | «Szenario Outlook and Adequacy Forecasts» 2015 (SOAF-Bericht) der ENTSO-E. |
²) | Ab 2035 rechnet der regierungsnahe deutsche Think Tank «Agora Energiewende» mit rund 3000 Jahresstunden, an denen die Preise an der Strombörse die Nulllinie nicht übersteigen werden. ErneuerbareEnergien-Gesetz 3.0: Konzept einer strukturellen EEG-Reform auf dem Weg zu einem neuen Strommarktdesign (Kurzfassung) S. 16. |
Hochradioaktiver Atommüll aus Sellafield durch Basel
Zug mit drei Anhängern voll Atommüll.
Am Samstag, 19. September, traf zum ersten Mal ein Transport mit hochradioaktivem Atommüll aus der englischen Wiederaufbereitungsanlage Sellafield im Zwischenlager (Zwila) im aargauischen Würenlingen ein. Dort muss die heisse Fracht während mehrerer Jahrzehnte abkühlen.
Der Transport bis Cherbourg an der französischen Nordküste erfolgte mit Lastwagen und Schiff. Die anschliessende Bahnfahrt führte durch ganz Frankreich von Cherbourg über Reims und Strassburg und wurde dort von den französischen Umweltschützern der Organisation «Sortir du nucleaire» verfolgt und dokumentiert. In der Schweiz wurde die heikle Fracht per Bahn via Basel nach Würenlingen gebracht.
lntransparentes Ensi
Laut Stefan Füglister, dem früheren Atom-Experten von Greenpeace, handelt es sich um den ersten derartigen Transport seit fünf Jahren und den ersten aus Sellafield überhaupt. Die bisherigen Transporte stammten aus der französischen Wiederaufbereitungsanlage La Hague. Der zurückgeführte Atommüll gehört dem AKW Gösgen.
Während die französischen Atomsicherheitsbehörden den Transport offiziell und recht detailliert kommunizierten, breitet das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) den Mantel des Schweigens über den Transport der riskanten Fracht durch die Nordwestschweiz. In den drei Blöcken sollen sich insgesamt sieben Tonnen hochradioaktiver Müll befinvvden. Das Bild links zeigt den Zug mit drei Anhängern, in denen sich verglaste und durch einen Stahlmantel geschützte Atommüllrückstande befinden.
Bewegte Vergangenheit
Die ersten Atommülllieferungen nach England und Frankreich erfolgten vor 30 Jahren. Die Schweizer Atomindustrie ging damals noch davon aus, damit sei gleich die Entsorgung der abgebrannten Brennelemente gelöst: Die Rückführung der Abfälle in die Schweiz war in den ersten Verträgen mit den Wiederaufarbeitungsanlagen in Sellafield (GB) und La Hague (F) nicht vorgesehen. Unterdessen hat sich das geändert: Jedes Land muss sich um die Entsorgung des eigenen Atommülls kümmern — und zwar im jeweiligen Land.
AKW Hinkley Point C in England
Milliardenhilfe für AKW
Atomrenaissance: Dieses Stichwort drängt sich auf, wenn man die Entwicklung im Südwesten Englands verfolgt. Das dort geplante neue Atomkraftwerk Hinkley Point C wird Auswirkungen auf die gesamte europäische Energiepolitik haben.
Auch am 16. Schönauer Stromseminar (s. Seite 2) war das englische Projekt Hinkley Point C ein intensiv diskutiertes Thema. Reinhard Uhrig, Kampagnenleiter der österreichischen Umweltorganisation «Global 2000», legte in einem engagierten Referat nicht nur brisante Fakten auf den Tisch, sondern deckte auch die zwiespältige Rolle auf, welche die EU im Entscheid um die Subventionierung der Grossanlage gespielt hatte. Hinkley Point C — darin ist sich die Fachwelt einig — wird eines der teuersten, wenn nicht überhaupt das teuerste Kraftwerk der Welt werden. Zurzeit besteht die Anlage an der Südwestküste Englands aus zwei bereits stillgelegten Reaktoren (Hinkley Point A) und zwei noch laufenden Reaktoren (Hinkley Point B), deren Abschaltung auf 2017 vorgesehen ist. Von den anderen 16 Reaktoren, die Grossbritannien betreibt, sind 10 ebenfalls schon 30 Jahre alt oder älter. Es «braucht» neue AKWs, um die Energieversorgung des Landes sicherzustellen, argumentiert die britische Regierung.
Bisher lautete das britische Konzept: AKW ja,aber ohne Finanzierung durch Steuergelder. Auf Druck des heutigen AKW-Betreibers, des mehrheitlich staatlichen französischen Energiekonzerns Electricité de France (EdF), hat die Regierung aber einen Rückzieher gemacht und dem Konzern sowohl eine Preisgarantie — in Form einer auf 35 Jahre garantierten Einspeisevergütung — wie auch eine staatliche Subventionierung der Baukosten zugesagt. Diese werden sich auf schätzungsweise 33,8 Milliarden Euro belaufen, manche Fachleute gehen aber wegen bestehender Unsicherheiten in der Planung bereits von 43 Milliarden aus. Gemeinsam sollen die beiden vorgesehenen Reaktoren eine Bruttoleistung von 3260 Megawatt erbringen — fast das Dreifache des Schweizer AKWs Leibstadt (1200 Megawatt).
«Wenn man die Baukosten von Hinkley Point herunterbricht auf die voraussehbare Leistung, dann stehen einem die Haare zu Berge», fasst Kampagnenleiter Uhrig die Fakten pointiert zusammen. Sogar der Preis für erneuerbare Energien sei inzwischen günstiger. «Zumindest zeigt sich an diesem Beispiel definitiv, dass Atomkraft nicht konkurrenzfähig ist.» Oder in Zahlen ausgedrückt: Das Reaktorbaukonsortium erhielt eine Preisgarantie in der Höhe von 12,4 Cents pro Kilowattstunde, das sei ungefähr das Doppelte des heutigen Strompreises in Grossbritannien. Eine Studie, welche inzwischen von Greenpeace Energy in Auftrag gegeben wurde, hat berechnet, dass der britische Staat den Betreibern von Hinkley Point somit gesamthaft 108 Milliarden Euro zukommen lasse (Baukosten, Strompreisgarantie und weitere Garantien im Fall von Ertragseinbussen).
Neben den Kosten kamen mit der Zeit aber noch weitere brisante Details ans Licht: So haben sich die Erbauer in ein Konsortium zusammengeschlossen, dem neben der Electricité de France und dem Atomkonzern Areva zwei chinesische Firmen angehören (Nuclear Nation Holding und China Nuclear Corpo-ration). Bemerkenswert sei, so hält Uhrig fest, dass die zweite dieser beiden Firmen die Erbauerin der chinesischen Atombombe ist. Und ebenfalls brisant: Bereits jetzt schon stehe fest, dass Hinkley Point C wirtschaftlich nie rentabel sein werde.
Damit folgt der zweite Teil des «dirty deals», wie Uhrig das Prozedere um Hinkley Point nennt. Unter der bestehenden Gesetzgebung der EU muss eine staatliche Subventionierung, wie sie für Hinkley Point vorgesehen ist, von der EU-Kommission freigegeben werden. Staatsbeihilfe ist, da wettbewerbsverzerrend, nur erlaubt, wenn ein sogenanntes Marktversagen vorliegt und die Subventionen im Interesse der EU sind. Was denn im Fall von Hinkley Point von der zuständigen EU-Kommission auch stark angezweifelt wurde. Doch offenbar, so wird aus internen Informationen ersichtlich, übte Grossbritannien starken politischen Druck auf die Kommissarinnen und Kommissare aus. Die Abstimmung in der Kommission,die Ende 2014 stattfand, fiel schliesslich denkbar knapp aus: mit einer Mehrheit von 16 Stimmen zugunsten Grossbritanniens — mindes-tens 15 von 28 Stimmen wären für ein Ja nötig gewesen.
Zahlreiche EU-Mitgliedstaaten sind jedoch gegen das AKW-Projekt. Sie befürchten, dass mit dem EU-Beschluss ein Präzedenzfall geschaffen werde, zum Beispiel für die osteuropäischen Staaten, die bereits auf ähnliche Begünstigung hofften. An vorderster Front der Gegner steht Österreich, das sich selber explizit für eine atomkraftfreie Zukunft entschieden hat. Aktiv geworden ist auch eine Reihe von Umweltorganisationen sowie ein Bündnis von Ökostromanbietern und Stadtwerken in Deutschland. Nach neusten Meldungen (15. Juli 2015) haben die Gegner inzwischen eine Nichtigkeitsklage wegen «unrechtmässiger Be-triebsbeihilfe» beim Gericht der Europäischen Union eingereicht.
Grund für die regionalen Stromanbieter, sich aktiv gegen Hinkley Point zu engagieren, ist die Sorge, dass das zukünftige AKW seinen hochsubventionierten Strom auch ins europäische Netz einspeisen könnte. Vor allem jene Stadtwerke seien betroffen, die Wärme-Kraft-Kopplungsanlagen betreiben, weil diese schon jetzt punkto Strompreise auf wackligen Beinen stünden, erklärt Achim Kötzle, Geschäftsführer der Stadtwerke Tübingen. Aber auch andere alternative Energien würden das Gefälle zu spüren bekommen.
Neben all diesen Diskussionen ist nun allerdings noch ein weiterer Tatbestand aufgetaucht, der die Situation völlig verändern könnte: Reaktorbauer Areva ist in Not. Bei dem von ihm erbauten Reaktordruckbehälter im französischen Flamanville sind Materialfehler aufgetreten. Und bei fünf weiteren im Bau befindlichen Reaktoren könnte das gleiche Problem auftreten — zwei davon sind jene für Hinkley Point. «Es bleibt die Hoffnung», so schliesst Reinhard Uhrig seinen Vortrag, «dass das Ding gar nie gebaut wird!»
Christine Voss
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