71 Störfälle in den letzten 10 Jahren: In Beznau steht mit Baujahr 1969 das weltweit älteste Atomkraftwerk. | FOTO: KEYSTONE |
71 Störfälle in den letzten 10 Jahren: In Beznau steht mit Baujahr 1969 das weltweit älteste Atomkraftwerk. | FOTO: KEYSTONE |
BEZNAU AG — Erst war es nur ein Experiment. Doch was die belgischen Atomtechniker entdeckten, hatte weitreichende Folgen — am Dienstagabend musste der belgische Elektrizitätskonzern Electrabel seine Atommeiler Doel 3 bei Antwerpen und Tihange 2 in der Nähe von Lüttich abschalten. Der Grund: «unerwartete Ergebnisse» bei einer Materialprüfung.
In einem komplexen Verfahren hatten die Techniker den Stahl, der in den Reaktordruckbehältern von Doel und Tihange verbaut ist, mit Strahlen bombardiert. Der Test sollte zeigen, wie stark das Material in 40 Betriebsjahren strapaziert wird. Der Reaktordruckbehälter ist das hochsensible Kernstück jedes Atomreaktors — ist der Behälter brüchig, kann er bersten und ausser Kontrolle geraten. Es kommt zum Super-GAU.
Details zu den Testresultaten halten die belgischen Behörden unter Verschluss. Sie müssen erschreckend sein, die Betreiber nahmen die Meiler freiwillig sofort vom Netz. Für Mycle Schneider, deutscher Atomenergie-Experte und Träger des alternativen Nobelpreises, ein Indiz, dass die Resultate «gravierend» sind. Denn eine Abschaltung ist für die Energiekonzerne mit enormen finanziellen Verlusten verbunden. Die belgische Aufsichtsbehörde lässt offen, ob die beiden AKW je wieder ans Netz gehen. Schneider spricht von «potenziell gewaltigen internationalen Auswirkungen der Tests»: Die weltweite Überprüfung sämtlicher Reaktordruckbehälter könnte unabdingbar sein.
Betroffen ist auch die Schweiz: Der Reaktordruckbehälter des AKW Mühleberg stammt aus derselben Schmiede wie diejenigen in Doel und Tihange. Dies bestätigt die Betreiberin BKW AG. Dazu kommt, dass drei der sechs ältesten Atomkraftwerke Europas in der Schweiz stehen. Beznau 1 ist mit Baujahr 1969 sogar die weltweit älteste Anlage. Das hat Auswirkungen auf den Betrieb. Der Schweizer Atomexperte Stefan Füglister hat zum ersten Mal in einer Untersuchung nachgewiesen, dass das Alter von Beznau die Fehleranfälligkeit steigert. Innerhalb der letzten 10 Jahre kam es in diesem AKW zu 71 Vorfällen. Über 50 Prozent stehen gemäss der im Auftrag von Greenpeace durchgeführten Untersuchung in Zusammenhang mit Verschleisserscheinungen und technologischer Überalterung. Ein Zusammenhang, den selbst die Beznau-Betreiber bestätigen: Laut Axpo ist bei knapp einem Drittel der Vorfälle das Alter «eine mögliche Ursache».
Die Untersuchung von Füglister listet alle ausserordentlichen Ereignisse der letzten zehn Jahre in Beznau auf: von harmlosen Abweichungen bis zu gravierenden Vorfällen wie am 31. Juli 2009, als bei Revisionsarbeiten zwei AKW-Mitarbeiter verstrahlt wurden. Auffallend ist auch, dass es in Beznau 2 in den letzten zehn Jahren zu zehn Reaktorabschaltungen kam. Diese werden bei Unregelmässigkeiten ausgelöst. Im neueren AKW Gösgen kam es im selben Zeitraum nur zu einer Abschaltung. Fazit der Studie: Die Zuverlässigkeit von Beznau ist im Sinkflug. «Mit dem unbefristeten Langzeitbetrieb steigen die Risiken von Störfällen.»
Jetzt fordert Greenpeace, dass die nationale Aufsichtsbehörde ENSI sofort die Überprüfung sämtlicher Reaktordruckbehälter nach demselben System wie in Belgien auf Verschleissspuren anordnet — um gravierende Zwischenfälle zu vermeiden. Atomspezialist Florian Kasser von Greenpeace: «Der Betrieb einer alten Anlage wie in Beznau oder Mühleberg ist ein Experiment, von dem niemand weiss, wie es endet.»
Die Forderung stösst beim ENSI und bei den Betreibern Axpo und BKW auf taube Ohren. Es gebe «keinen akuten Handlungsbedarf», sagt ENSI-Sprecher Sebastian Hueber. In Beznau und Gösgen sei 2013 bereits eine Überprüfung angeordnet worden. Nur: Um diesen SicherheitsCheck durchzuführen, haben die Betreiber drei Jahre Zeit.
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