Die Atomaufsicht in der Kritik: Beim Austritt von radioaktivem Wasser im Katastrophenfall operiere sie mit falschen Zahlen, sagen atomkritische Ärzte.
Von Felix Maise
Im Oktober haben die Bundes-Atomaufseher ihre Erkenntnisse zur «radiologischen Schadstoffausbreitung in Fliessgewässern» veröffentlicht. Ziel der in einer Aktennotiz des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) zusammengefassten Abklärungen ist es, den AKW-Katastrophenschutz auf den neusten Stand zu bringen. Dass radioaktives Wasser in grossen Mengen und unkontrolliert aus einem Reaktor austreten könnte, war vor Fukushima weder in Japan noch in der Schweiz in AKW-Unfallszenarien vorgesehen. Anders als in Fukushima, wo bis heute verseuchtes Wasser ins Meer strömt, würden in der Schweiz in erster Linie die Aare und der Rhein vergiftet. Egal ob Mühleberg, Gösgen, Beznau oder Leibstadt: Tritt aus einem Schweizer AKW radioaktives Wasser aus, fliesst es über Aare und Rhein Richtung Basel und bedroht entlang der Flüsse die Trinkwasserversorgung.
Das stellt auch das ENSI in seinem Bericht fest. Die genaue Lektüre zeigt aber, dass das Papier von überholten Annahmen ausgeht, berücksichtigt es doch nur jene kontaminierte Wassermenge, die unmittelbar nach dem Unfall in Fukushima ins Meer ausfloss. Das kritisieren die Ärztinnen und Ärzte für Umweltschutz (Aefu) in einer Pressemitteilung von gestern. Dass aus undichten Kühlwassertanks und via Grundwasser ständig weitere Radioaktivität in den Pazifik gelangt, gehe beim ENSI vergessen.
Vergessen hätten die Verfasser des Berichts auch die Basler Vorortgemeinde Muttenz, die wie die Stadt Basel ihr Trinkwasser aus dem Rhein bezieht. Nicht erwähnt werden im Papier auch mögliche Probleme anderer Gemeinden entlang von Aare und Rhein. So versorgen sich zum Beispiel die Städte Solothurn oder Laufenburg mit von Flusswasser gespeistem Grundwasser.
Schlicht falsch sind laut Aefu-Geschäftsleiter Martin Forter die Zahlen zur Rheinwasserentnahme der Basler Trinkwasserversorgung. Laut ENSI werden dafür täglich 75'000 Kubikmeter entnommen. Tatsächlich sind es rund 145'000 Kubikmeter, wie die für das Basler Trinkwasser zuständigen Industriellen Werke Basel (IWB) bestätigen.
Das ENSI relativiert
Dazu komme, dass das ENSI anscheinend auch die Besonderheit der Basler Wasserversorgung nicht kenne: Rheinwasser muss man in der Muttenzer Hard ständig versickern lassen, um zu verhindern, dass die Trinkwasserbrunnen durch verschmutztes Grundwasser der ehemaligen Chemiemülldeponien in der Nachbarschaft belastet werden. Müsste die Rheinwasserentnahme wie im Bericht hochgerechnet für 175 Tage unterbrochen werden, wären die Trinkwasserfassungen in der Muttenzer Hard nicht mehr brauchbar.
ENSI-Mediensprecher Sebastian Hueber verweist darauf, dass der Bericht zum radioaktiven Wasser bei den zuständigen Partnern — darunter das Bundesamt für Gesundheit, die Nationale Alarmzentrale und die für Anordnung und Vollzug von Notfallschutzmassnahmen zuständigen Kantone — in eine breite Vernehmlassung gegangen sei. Die Resultate, auch die aufgeführten Zahlen, seien dabei nicht bemängelt worden. Die Liste der potenziell gefährdeten Trinkwasserbezüger sei «nicht abschliessend». Und «die genaue Menge der Freisetzung hat auf die Planung von Überwachung, Alarmierung und Entscheidungskriterien einen geringen Einfluss». Der mögliche Austritt von kontaminiertem Wasser bei einem Extremereignis sei aber von allen Notfallschutzpartnern als ernst zu nehmendes Ereignis identifiziert worden, betont Hueber.
«Da haben wir leider einen ganz anderen Eindruck», sagt Peter Kälin, Arzt und Präsident der Aefu. «Das ENSI-Papier zeigt doch vor allem, wie oberflächlich die Atomaufsicht zur Wasserproblematik bei AKW-Havarien gearbeitet hat und wie wenig ernst man den Schutz der Bevölkerung bei einem nuklearen Grossereignis noch immer nimmt.»
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Das AKW Mühleberg erfüllt gemäss der Atomaufsichtsbehörde ENSI die Sicherheitsanforderungen für den laufenden Betrieb. Das ENSI hat jedoch Verbesserungsbedarf festgestellt und 26 Forderungen erhoben. Diese betreffen unter anderem die Weiterentwicklung der Wiederholungsprüfungen und der Altersüberwachung. Auch sollen die Störfall- und Sicherheitsanalysen aktualisiert werden. (SDA)
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Der BKW-Verwaltungsrat nehme seine Verantwortung für die Sicherheit des AKW Mühleberg zu wenig wahr.
Von Simon Thönen, Bern — Die Verlautbarungen der Atomaufsicht haben oft einen doppelten Boden. So verkündete das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) am Donnerstag, das AKW Mühleberg «erfüllt die Anforderungen für den laufenden Betrieb». Weiter unten in der Medienmitteilung stand dann, dass das ENSI nicht weniger als 26 zusätzliche Sicherheitsforderungen für den Betrieb des AKW bis 2019 stellt (siehe TA von gestern).
In der eigentlichen, 380 Seiten dicken ENSI-Stellungnahme schliesslich findet man auf Seite 40 eine massive Kritik der Atomaufsicht an der obersten Führungsspitze der Mühleberg-Betreiberin BKW: «Aus Sicht des ENSI nimmt der Verwaltungsrat der BKW Energie AG seine Verpflichtung nicht genügend wahr, auf systematische Weise die Sicherheit des Kernkraftwerks Mühleberg zu bewerten, um vorausschauend die nötigen Verbesserungen einzuleiten.»
Im Text erfährt man, dass das ENSI dies durchaus grundsätzlich meint. Zitiert wird der Bericht internationaler Beobachter, die Mühleberg inspizierten: Die Vorkehrungen der BKW seien «nicht robust genug», um der Konzernleitung «eine fortlaufende Überprüfung der Sicherheitsleistung zu ermöglichen». Die Inspektion bezog sich im Wesentlichen auf den Normalbetrieb. Das ENSI wirft der BKW-Spitze aber auch mangelnde strategische Voraussicht in Sicherheitsfragen vor. Denn im Sicherheitsbericht von 2010, den das ENSI nun ausgewertet hat, bestünden Defizite. Dies zeige sich daran, dass die Atomaufsicht nach Fukushima und für den «Langzeitbetrieb» umfangreiche Nachrüstungen habe anordnen müssen. «Dies weist darauf hin», so das ENSI, dass 2010 «keine umfassende Langzeitstrategie und kein Langzeitbetriebsprogramm vorlag».
«Kein schlechtes Gewissen»
«Ich bin sehr überrascht von solchen Vorwürfen», sagt auf Anfrage BKW-Verwaltungsratspräsident Urs Gasche, «und auch enttäuscht. Immerhin ist die Kritik geeignet, den guten Ruf des Verwaltungsrats infrage zu stellen.» Bisher hätten weder er selber noch die BKW vom ENSI derartige Kritik vernommen. Er nehme diese aber «sehr ernst». «Nach den Festtagen» werde er das Gespräch mit ENSI-Direktor Hans Wanner suchen. Persönlich habe er «kein schlechtes Gewissen». Die BKW pflege eine «Safetyfirst-Kultur». Auch Energiedirektorin und BKW-Verwaltungsrätin Barbara Egger-Jenzer (SP) zeigt sich überrascht. Nicht ausschliessen wolle sie, «dass das selber heftig kritisierte ENSI mit den Aussagen die Flucht nach vorn antritt».
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Seit Sonntag, dem 7. Sept. 2014, läuft das Atomkraftwerk Mühleberg nach der vierwöchigen Sommerrevision wieder auf Volllast. Gestern nun teilte der Berner Energiekonzern BKW mit, dass während der Revision acht neue Risse im Kernmantel des AKW entdeckt wurden. Risse im Kernmantel sind nichts Neues: Sie wurden erstmals 1990 entdeckt und wuchsen seither. Die BKW verweist jeweils darauf, dass sie 1996 vier Zuganker montiert hat, die den Kernmantel stabilisieren.
Neu ist die Art der entdeckten Risse. Der Kernmantel, der wichtige Sicherheitseinrichtungen hält, besteht aus zusammengeschweissten Stahlzylindern. Bisher befanden sich die Risse horizontal auf den Schweissnähten. Die acht neuen Risse verlaufen vertikal von oben nach unten. Sie sind bis zu 10 Zentimeter lang. «Beunruhigend» sind die neu entdeckten Risse für Jürg Aerni von der Organisation Fokus Anti-Atom. «Erstmals handelt es sich nicht mehr nur um horizontale Risse, sondern auch um Risse senkrecht zu den Schweissnähten. Zudem gehen sie über die Schweissnaht hinaus in das Stahlblech des Kernmantels hinein. Auch dies ist neu.»
Problematisch sei vor allem, dass die vier Zuganker, mit denen die BKW den rissigen Kernmantel bisher stabilisiert, «gegen senkrechte Risse nicht oder kaum stabilisierend wirken». Für Aerni braucht die BKW «wegen der neuen Risse ein neues Reparaturkonzept für den Kernmantel». Er fordert: «Bis dieses definiert und umgesetzt ist, muss das AKW abgeschaltet werden.»
Aufsicht erlaubte den Betrieb
Für die BKW haben die «neu entdeckten Anrisse keine sicherheitstechnische Relevanz», wie sie mitteilt. Sie habe «die Integrität des Kernmantels mit einer hohen Sicherheitsmarge nachweisen» können. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI) gab vergangene Woche bekannt, dass es die Inbetriebnahme von Mühleberg nach der Revision erlaubt hat — ohne in der Medienmitteilung die neu entdeckten Risse zu erwähnen. «Für den kommenden Betriebszyklus stellen die neuen Risse sicherheitstechnisch kein Risiko dar», sagte gestern ein ENSI-Sprecher der Nachrichtenagentur SDA. Der Zyklus dauert ein Jahr. Die BKW muss allerdings bis Ende Oktober in einem Konzept präzisieren, wie sie den Kernmantel aufgrund der neuen Situation instand halten will.
Simon Thönen
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Laut einer neuen Studie wird in der Notfallplanung das Risiko für die Versorgung mit Trinkwasser unterschätzt.
Bei einem schweren Unfall im AKW Gösgen mit dem Austritt von radioaktivem Wasser würde das verseuchte Wasser nach einer Stunde Aarau erreichen, das Trinkwasser aus der Aare bezieht. Bis Basel, das sein Trinkwasser ausschliesslich aus dem Rhein gewinnt, käme radioaktives Wasser aus Leibstadt nach 14 Stunden. Massnahmen zum Schutz der Bevölkerung müssten also innert kürzester Zeit getroffen werden.
Doch die Schweizer Atomaufsicht, das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (ENSI), rechnet im Gegensatz zur gestern veröffentlichten Studie des deutschen Ökoinstituts nicht mit diesem Fall: Das der Schweizer Notfallplanung zugrunde gelegte Unfallszenario geht auch nach den Erkenntnissen aus Fukushima von einem 100-mal kleineren Radioaktivitätsaustritt aus als bei der Katastrophe in Japan. Die Atomaufsicht will den Betreibern deshalb auch keine Auflagen machen, die das Auslaufen von belastetem Kühl- oder Löschwasser reduzieren könnte.
In Fukushima floss massenhaft schwer mit Iod und Cäsium belastetes Wasser, das zuvor tagelang zur Kühlung auf die beschädigten Anlagen gesprüht worden war, ins nahe Meer und versickerte im Untergrund. Noch heute hat man das Problem nicht im Griff. Der in der Studie angenommene Freisetzungsanteil entspricht den Werten des beschädigten Blocks 2 von Fukushima, wo etwa 9 Prozent Iod und etwa 5 Prozent des im Reaktor enthaltenen Cäsiums austraten.
Versorgung wäre ein Kraftakt
Das Rheinwasser bei Basel wäre bei diesem Unfallszenario gemäss den Berechnungen des Ökoinstituts mit bis zu 6600 Becquerel radioaktivem Strontium pro Liter belastet, mit 9100 Becquerel Iod und mit 2600 Becquerel Cäsium. Die in der Fremd- und Inhaltsstoffverordnung für Lebensmittel festgeschriebenen Toleranzwerte für Radionuklide im Trinkwasser und auch der weit höher angesetzte Grenzwert wären um ein Vielfaches überschritten. Das Wasser aus Aare und Rhein wäre für die Trinkwasseraufbereitung längere Zeit nicht mehr nutzbar. Die Notfallversorgung, die gesetzlich 15 Liter Wasser pro Kopf und Tag vorsieht, wäre eine logistische Riesenübung.
«Wir fordern von den AKW-Betreibern wirksame Vorkehrungen gegen eine unkontrollierte Freisetzung von kontaminiertem Wasser» sagte deshalb Jürg Stöcklin, Präsident des Trinationalen Atomschutzverbandes (Tras) gestern bei der Präsentation der vom Verband in Auftrag gegebenen Studie in Basel. «Und wir erwarten von den Aufsichtsbehörden, dass sie Notfallszenarien erarbeiten, um die Versorgung der Bevölkerung mit sauberem Trinkwasser sicherzustellen», erklärte der Professor für Botanik der Universität Basel.
Wegen der möglichen Verbreitung von Radioaktivität nicht nur über den Wasserweg, sondern auch über die Luft wäre laut der Studie im Übrigen auch die Trinkwasserversorgung der Region Zürich und der deutschen Grenzregion betroffen: Bei Westwind würden auch der Zürichsee und der Bodensee vor allem bei gleichzeitigem Regen von einer schweren Havarie mit Wasseraustritt in Leibstadt oder Beznau verseucht.
Das ENSI mochte gestern zur Studie des Ökoinstituts und zur Kritik des Atomschutzverbandes nicht Stellung nehmen. Man habe den Bericht erst gestern erhalten und könne deshalb noch nichts dazu sagen, sagte Pressesprecher Sebastian Huber auf Anfrage. Er verweist aber auf die vom Bund eingesetzte interdepartementale Arbeitsgruppe IDA Nomex, welche die Notfallplanung in Zusammenarbeit mit den zuständigen Kantonen überprüft habe. «Die Qualität der Vorsorge zeigt ein heterogenes Bild», lautet eine vorläufige Quintessenz der Arbeitsgruppe.
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