AKW-Auf­sicht hält sich nicht an in­ter­na­tio­na­le Sicher­heits­stan­dards

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Das Eidgenössische Nuk­le­ar­si­cher­heits­in­spek­to­rat (ENSI) will in sei­ner neu­en Richt­li­nie ein­zel­ne Em­pfeh­lun­gen nicht um­set­zen, die von der In­ter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­be­hör­de im Jahr 2011 ab­ge­ge­ben wur­den. Die Um­welt­schutz­or­ga­ni­sa­ti­on Green­pea­ce re­agiert kon­ster­niert und be­zeich­net die Ent­schei­dung als «un­ver­ständ­lich». — Seite 4 Seite 4 

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Atom­auf­sicht igno­riert Vor­ga­ben

Das Nuk­le­ar­si­cher­heits­in­spek­to­rat (ENSI) will in einer neu­en Richt­li­nie Emp­feh­lun­gen der In­ter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­agen­tur nicht um­set­zen. Green­peace kri­ti­siert dies als «un­ver­ständ­lich».

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Von Simon Thönen, Bern
AKW Leibstadt

Die Regeln für die Sicherheitsüberprüfung geben zu reden: AKW Beznau.

Foto: Keystone

AKW Leibstadt

Die Re­geln für die Si­cher­heits­über­prü­fung ge­ben zu re­den: AKW Bez­nau.

Foto: Keystone

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Am Mon­tag muss der Ber­ner Ener­gie­kon­zern BKW dem Eid­ge­nös­si­schen Nuk­le­ar­si­cher­heits­in­spek­to­rat (ENSI) sein Kon­zept ein­rei­chen, wie er sein Atom­kraft­werk Müh­le­berg bis zur Ab­schal­tung 2019 si­cher be­trei­ben will. Nach­dem das Ber­ner Stimm­volk am 18. Mai die so­for­ti­ge Ab­schal­tung von Müh­le­berg an der Ur­ne deut­lich ab­ge­lehnt hat, hängt es ein­zig von der Be­ur­tei­lung des ENSI ab, ob die BKW ihr AKW wirk­lich bis 2019 be­trei­ben darf. Müh­le­berg ist für die Atom­auf­sicht ein Test­fall. Ers­te Vor­schlä­ge der BKW hat­te das ENSI als un­ge­nü­gend zu­rück­ge­wie­sen. Nun wird sich zei­gen, ob sich das ENSI durch­set­zen kann.

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Der Zufall will es, dass am Mon­tag auch die An­hö­rungs­frist für eine wich­ti­ge neue Si­cher­heits­richt­li­nie des ENSI ab­läuft. Die Richt­li­nie A03 re­gelt die so­ge­nann­te pe­rio­di­sche Si­cher­heits­über­prü­fung der AKW, wel­che die wich­tig­ste Grund­la­ge für die Atom­auf­sicht ist.

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Gegen Gefälligkeitsgutachten

Zwar wird das ENSI die ak­tu­el­len Vor­schlä­ge für Nach­rüs­tun­gen in Müh­le­berg nicht ge­mäss der neu­en Richt­li­nie be­ur­tei­len, die erst im Ent­wurf vor­liegt. Wohl aber die Si­cher­heit der vier an­de­ren Schwei­zer AKW, für die noch gar kein Ab­schalt­da­tum fest­steht. Die For­mu­lie­rung der Richt­li­nie wer­fe zu­dem ge­ne­rell ein schlech­tes Licht auf die Auf­sichts­pra­xis des ENSI, kri­ti­siert die AKW-Geg­ner­or­ga­ni­sa­ti­on Green­pea­ce.

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Stein des An­stos­ses ist, dass das ENSI in der Richt­li­nie Em­pfeh­lun­gen nicht um­setzt, wel­che In­spek­to­ren der In­ter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­agen­tur (IAEA) 2011 zur Atom­auf­sicht in der Schweiz ge­macht hat­ten.

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So empfah­len die IAEA-Ex­per­ten, das ENSI sol­le da­für sor­gen, dass die AKW-Be­trei­ber al­le si­cher­heits­re­le­van­ten Un­ter­la­gen «von un­ab­hän­gi­ger Sei­te über­prü­fen las­sen», be­vor sie die­se beim ENSI ein­rei­chen. Die Em­pfeh­lung ist re­le­vant. Denn die meis­ten Un­ter­la­gen zur Be­ur­tei­lung der Si­cher­heit stam­men von den Be­trei­bern sel­ber — oder von Fir­men, die von ih­nen be­auf­tragt wer­den. Wenn die Be­trei­ber die­se Un­ter­la­gen zu­erst von einer un­ab­hän­gi­gen In­stanz über­prü­fen las­sen müs­sen, ver­min­dert dies die Ge­fahr von Ge­fäl­lig­keits­gut­ach­ten.

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Fragen zur Richt­li­nie be­ant­wor­tet das ENSI un­ter Ver­weis auf die mo­men­tan lau­fen­de An­hö­rung nicht. ENSI-Spre­cher Da­vid Su­chet be­tont auf An­fra­ge je­doch, das ENSI ha­be einen «Mass­nah­men­plan er­ar­bei­tet, um die Um­set­zung der Em­pfeh­lun­gen der IAEA in die We­ge zu lei­ten». Wie die ge­nann­te Em­pfeh­lung der IAEA aus­ser­halb der neu­en Richt­li­nie um­ge­setzt wer­den soll, konn­te Su­chet ges­tern nicht sa­gen.

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Kein Wort zu Zweit­meinun­gen

Dass die Em­pfeh­lung der in­ter­na­tio­na­len Ex­per­ten in der neu­en wich­ti­gen Richt­li­nie fehlt, kri­ti­siert Flo­ri­an Kas­ser von Green­pea­ce: «Es ist un­ver­ständ­lich, dass das ENSI hier Vor­ga­ben der IAEA über­geht.» Pi­kant ist: Auch auf dem Um­set­zungs­plan des ENSI steht aus­drück­lich, dass die­se IAEA-Em­pfeh­lung «in­ner­halb des Re­gel­werks» um­ge­setzt wer­den soll. Das heisst: mit Richt­li­ni­en des ENSI.

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Weiter hat­ten die Ex­per­ten der In­ter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­agen­tur em­pfoh­len, dass auch das ENSI ob­li­ga­to­risch «und auf trans­pa­ren­te Wei­se» Zweit­mei­nun­gen ein­holt, be­vor es Ent­schei­de fällt. Auch da­zu fin­det sich im Ent­wurf für die Richt­li­nie A03 nichts, wie Green­pea­ce kri­ti­siert. ENSI-Spre­cher Su­chet schreibt in sei­ner Ant­wort, das ENSI ha­be mit der Kom­mis­si­on für nuk­lea­re Si­cher­heit (KNS) eine Ver­ein­ba­rung «vor­be­rei­tet», um der KNS früh­zei­ti­ge Zweit­mei­nun­gen zu er­mög­li­chen.

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Die Kom­mis­si­on für nuk­lea­re Si­cher­heit ist das of­fi­zi­el­le be­ra­ten­de Gre­mi­um in Nuk­le­ar­fra­gen. Es war denn auch die KNS, die im Herbst 2013 auf einen un­ge­klär­ten Punkt der Atom­auf­sicht hin­wies. Weil die AKW in der Schweiz alt sind, kann ein si­che­rer Be­trieb nur mit Nach­rüs­tun­gen ge­währt wer­den. Doch wie ist der mass­geb­li­che «Stand der Nach­rüst­tech­nik de­fi­niert?», frag­ten KNS-Mit­glie­der das ENSI.

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Fol­gen­lo­se An­kün­di­gung

Die Defini­ti­on wer­de in der Richt­li­nie A03 ste­hen, ver­sprach das ENSI da­mals — doch nun fehlt sie im Ent­wurf. Das ENSI ha­be eine Ar­beits­grup­pe ein­ge­setzt, um den Be­griff «wei­ter zu kon­kre­ti­sie­ren», schreibt Su­chet. «Das ENSI ist ein Meis­ter in Ab­sichts­er­klä­run­gen», kri­ti­siert Kas­ser. «Ich stau­ne dar­über, dass das ENSI die Klä­rung die­ses ab­so­lut zen­tra­len Be­griffs ein­mal mehr ver­tagt hat.» Swiss­nuclear, die Or­ga­ni­sa­ti­on der AKW-Be­trei­ber, woll­te sich ges­tern zur Richt­li­nie nicht äus­sern, da die An­hö­rungs­frist noch lau­fe.

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Das Kon­troll­sys­tem mit dem blin­den Fleck

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Die In­ter­na­tio­na­le Atom­ener­gie­be­hör­de for­dert bei al­len si­cher­heits­re­le­van­ten Un­ter­la­gen für Atom­kraft­wer­ke ein 4-Augen-Prin­zip. In der Schweiz wird dies nur TOP halb­her­zig um­ge­setzt.

Von Simon Thönen, Bern
AKW Leibstadt

Was taugt das Konzept der Aufsichtsbehörde? Kühlturm des Atomkraftwerks Leibstadt.

Foto: Gaëtan Bally (Keystone)

AKW Leibstadt

Was taugt das Kon­zept der Auf­sichts­be­hör­de? Kühl­turm des Atom­kraft­werks Leib­stadt.

Foto: Gaëtan Bally (Keystone)

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Vier Augen se­hen mehr als zwei. Wenn es um Si­cher­heit geht, ist es des­halb die Re­gel, dass ein Sach­ver­halt von zwei In­stan­zen über­prüft wird. Auch beim The­ma AKW-Si­cher­heit gibt es — auf ver­schie­de­nen Ebe­nen — im­mer wie­der De­bat­ten über das 4-Augen-Prin­zip. Als In­spek­to­ren der In­ter­na­tio­na­len Atom­ener­gie­be­hör­de (IAEA) 2011 die schwei­ze­ri­sche Atom­auf­sicht ENSI un­ter­such­ten, mahn­ten sie die­ses Prin­zip eben­falls an. Und zwar beim The­ma der «si­cher­heits­re­le­van­ten In­for­ma­tio­nen». Die­se Si­cher­heits­be­rich­te, Mess­pro­to­kol­le oder Bau­plä­ne stam­men meist von den AKW-Be­trei­bern oder von Fir­men, die von die­sen be­auf­tragt wur­den. Zwar muss letzt­lich das ENSI, das Eid­ge­nös­si­sche Nuk­le­ar­si­cher­heits­in­spek­to­rat, die­se be­ur­tei­len, aber eben meist auf der Ba­sis von In­for­ma­tio­nen der Be­trei­ber.

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Unter­la­gen, die für die Si­cher­heit der AKW re­le­vant sind, müss­ten des­halb un­ab­hän­gig über­prüft wer­den, schon be­vor die Be­trei­ber sie beim ENSI ein­rei­chen, for­der­ten die IAEA-In­spek­to­ren. Da es sich um eine frei­wil­li­ge In­spek­ti­on in­ner­halb der nuk­lea­ren Ge­mein­de han­del­te, war die For­de­rung for­mal ge­se­hen nur eine Em­pfeh­lung an das ENSI. Doch es wur­de da­bei auf ent­spre­chen­de IAEA-Vor­schrif­ten ver­wie­sen. Fak­tisch war die Em­pfeh­lung al­so eine Rü­ge, dass das ENSI den in­ter­na­tio­na­len Stan­dard nicht ein­ge­hal­ten ha­be.

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Genügt Qua­li­täts­ma­na­ge­ment?

Die Empfehlung war klar for­mu­liert: Das ENSI sol­le eine recht­li­che Ver­pflich­tung für die AKW-Be­trei­ber ver­an­kern, «al­le si­cher­heits­re­le­van­ten In­for­ma­tio­nen, ob sie in­tern er­stellt wur­den oder von Ver­trags­part­nern stam­men (…), auf un­ab­hän­gi­ge Wei­se zu über­prü­fen, be­vor sie die­se bei der Auf­sichts­be­hör­de ein­rei­chen». Die Ab­sicht ist klar: Man will die Ge­fahr min­dern, dass Be­trei­ber feh­ler­haf­te Un­ter­la­gen oder Ge­fäl­lig­keits­gut­ach­ten ein­rei­chen. TOP Green­pea­ce kri­ti­sier­te kürz­lich, dass das ENSI die­se IAEA-Vor­ga­be in einer neu­en, wich­ti­gen Si­cher­heits­richt­li­nie nicht um­set­ze (TA vom 28. 6.). Auf An­fra­ge be­ton­te der ENSI-Spre­cher da­mals, die IAEA-Em­pfeh­lung wer­de an an­de­rer Stel­le um­ge­setzt. Er sag­te aber nicht, wie. Nach­träg­lich mach­te das ENSI gel­tend, es ha­be die IAEA-Em­pfeh­lung be­reits um­ge­setzt: In der un­auf­fäl­li­gen Richt­li­nie G07 über die «Or­ga­ni­sa­ti­on von Kern­an­la­gen», die be­reits seit Ju­li 2013 in Kraft ist.

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Eine aus­drück­li­che Ver­pflich­tung für die AKW-Be­trei­ber, dass sie al­le in­ter­nen Si­cher­heits­un­ter­la­gen auf un­ab­hän­gi­ge Wei­se über­prü­fen las­sen müs­sen, sucht man dort al­ler­dings ver­geb­lich. Nach mehr­ma­li­gen Rück­fra­gen ver­weist ENSI-Spre­cher Da­vid Su­chet auf die Ver­pflich­tung der Be­trei­ber, «al­le Ak­ti­vi­tä­ten, in­klu­si­ve der Er­stel­lung von si­cher­heits­re­le­van­ten Un­ter­la­gen», einem Qua­li­täts­ma­na­ge­ment-Sys­tem zu TOP un­ter­stel­len. Die­ses ist laut der Richt­li­nie «re­gel­mäs­sig auf sei­ne Wirk­sam­keit zu über­prü­fen». Für Flo­ri­an Kas­ser von Green­pea­ce ge­nügt dies nicht: «Dass ein Qua­li­täts­ma­na­ge­ment ge­for­dert wird, ga­ran­tiert noch kei­ne un­ab­hän­gi­ge Über­prü­fung in­ter­ner Si­cher­heits­un­ter­la­gen. Die IAEA-Em­pfeh­lung ist nur un­ge­nü­gend um­ge­setzt.»

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Gutachten nur intern prüfen

Dass die ENSI-Richt­li­nie G07 be­züg­lich der in­ter­nen Si­cher­heits­un­ter­la­gen der AKW-Be­trei­ber va­ge bleibt, mu­tet auch des­halb selt­sam an, weil sie in einem an­dern Punkt klar for­mu­liert ist: «Von ex­ter­nen Auf­trag­neh­mern er­stell­te si­cher­heits­re­le­van­te In­for­ma­ti­on ist vor der Über­mitt­lung an das ENSI durch eine in­ter­ne Stel­le zu über­prü­fen.» Hier al­ler­dings stellt sich die Fra­ge, ob man von einer un­ab­hän­gi­gen Über­prü­fung spre­chen kann, wenn der Auf­trag­ge­ber sel­ber die Er­geb­nis­se von Gut­ach­ten prü­fen muss, die er be­stellt hat.

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Suchet be­grün­det die Be­stim­mung ju­ris­tisch. Der Be­trei­ber tra­ge die recht­li­che Ver­ant­wor­tung für die Si­cher­heit. «Er darf die­se Ver­ant­wor­tung nicht an eine Fremd­fir­ma ab­ge­ben.»

Keine Ant­wort gibt das ENSI auf die Fra­ge, was die neu­en Be­stim­mun­gen in der Praxis für das Nach­rüst­kon­zept des AKW Müh­le­berg be­deu­ten, wel­ches die Be­trei­be­rin BKW vor knapp zwei Mo­na­ten ein­ge­reicht hat. Zu einem Zeit­punkt al­so, als die Richt­li­nie G07 be­reits in Kraft war. Su­chet ant­wor­tet: «Das ENSI wird das ein­ge­reich­te Kon­zept in den nächs­ten Mo­na­ten ein­ge­hend prü­fen und bis En­de Ja­nu­ar 2015 da­zu Stel­lung neh­men.»

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