Der Bundesrat möchte, dass die Aufsicht über die beiden Fonds der Atomkraftwerke — der Stilllegungs- und der Entsorgungsfonds — neu geregelt wird. Die AKW-Betreiber bezeichnen das Vorgehen als «verfassungswidrig». An einer Pressekonferenz drohten sie mit rechtlichen Schritten.
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Stilllegung und Entsorgung von Atomkraftwerken
Die Landesregierung will weniger Interessenkonflikte und mehr Geld für die Stilllegungs- und Entsorgungsfonds der Atomkraftwerke. Gegen beides stemmen sich AKW-Betreiber.
Dekontaminierung mit Hochdruck: Rückbau des ehemaligen DDR-AKW Lubmin im Mai 2012.
Foto: Michael Jungblut (Keystone, Laif)
Dekontaminierung mit Hochdruck: Rückbau des ehemaligen DDR-AKW Lubmin im Mai 2012.
Foto: Michael Jungblut (Keystone, Laif)
Dekontaminierung mit Hochdruck: Rückbau des ehemaligen DDR-AKW Lubmin im Mai 2012.
Foto: Michael Jungblut (Keystone, Laif)
Der Streit wird mit offenem Visier geführt. Am Mittwoch beschloss der Bundesrat, die Regeln über die Aufsicht der beiden Fonds, der Stilllegungs- und der Entsorgungsfonds der Atomkraftwerke, zu ändern. Die personellen Verflechtungen in Führungsgremien der beiden Fonds, das heisst zwischen der Bundesverwaltung, der Atomaufsicht ENSI und den AKW-Betreibern, müssen auf Anfang 2016 beendet werden. Gleichzeitig müssen die Kosten für einen Atomausstieg bis ins Jahr 2018 neu geschätzt werden.
Den beiden Vorschriften widersetzen sich die AKW-Betreiber Axpo, Alpiq und die BKW. Ihr Interessenverband Swisselectric bezeichnet die Regeln als «verfassungswidrig» und drohen mit Rechtshändeln: «Sollten die Anliegen der Betreiber nicht berücksichtigt werden, kann es zu rechtlichen Auseinandersetzungen kommen», sagte Kurt Rohrbach, Präsident des Verbandes Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE). Rohrbach machte die Drohung gestern unverhohlen an der gleichen Pressekonferenz publik, an der der Vertreter des Bundesrates den Entscheid erläutert hatte.
Dass die AKW-Betreiber bereit sind, sich juristisch anzulegen, zeigt ihre Reaktion auf die vom Bundesrat geänderten Regeln über die Höhe der Beiträge an die Stilllegungs- und Entsorgungsfonds. Sie sind im Januar dieses Jahres in Kraft getreten. Alle Betreiber, ausser die des AKW Gösgen, haben Verfügungen des Bundes vor Gericht angefochten, die sie zu höheren Beiträgen für 2015 und 2016 verpflichten. Die Beiträge sind höher, weil der Bundesrat neu einen Sicherheitszuschlag von 30 Prozent auf die jährlichen Fondsbeiträge verlangt.
Die BKW, die das AKW Mühleberg betreibt, begründet den Rekurs wie folgt: «Die Einführung eines Sicherheitszuschlags beurteilen wir als willkürlich. Die revidierte Verordnung verfügt in diesem Punkt über keine gesetzliche Grundlage.» Um wie viel geht es? Für das AKW Beznau sollten neu 99 Millionen (+46) bezahlt werden, für das AKW Gösgen 54 Millionen (+17), für das AKW Leibstadt 66 Millionen (+14) und für das AKW Mühleberg 57 Millionen (+26). In den Fonds liegen derzeit 11,5 Milliarden Franken. Die Betreiber sagen, die voraussichtlichen Kosten seien damit «gedeckt».
Der Bundesrat handelte allerdings nicht ohne Grund. Eine Untersuchung der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK), die im November 2014 publiziert wurde, ergab gravierende Mängel in der Führungsstruktur der Fonds und der Berechnungsmethode der geschätzten Kosten für die Stilllegung und Entsorgung von Atomkraftwerken. Ihr Fazit war: «Der Strom wurde in den letzten Jahren tendenziell zu günstig verkauft. Damit muss die nächste Generation dereinst für die Kosten aus der heutigen Geschäftstätigkeit (der Atomkraftwerke) aufkommen.» Das federführende Bundesamt für Energie nahm die EFK-Empfehlungen ernst und legte im März einen Verordnungsentwurf vor. Am Mittwoch hiess ihn der Bundesrat mit wenigen Ausnahmen gut.
Die Gretchenfrage des Streits ist, wie hoch die mutmasslichen Kosten für den Rückbau eines Atomkraftwerks sind und ob die AKW-Betreiber dafür genügend auf die Seite gelegt haben oder auf die Seite legen können. Die derzeitigen Schätzungen gehen auf eine Studie von 2011 zurück. Sie bezifferte diese auf 20,7 Milliarden Franken. Ob dieser Wert richtig ist, weiss niemand, weil es keinen «Marktwert» für eine Stilllegung gibt. gibt. Auch die Finanzkontrolle verwendete nur Zahlen von Swissnuclear.
Der vom Bundesrat beschlossene Fahrplan und die Methode für eine neue Schätzung sind die folgenden:
Wie hoch sind die Kosten für den Rückbau eines Atomkraftwerkes?
Zu regeln sein wird auch, ob die AKW-Betreiber den Fonds 1,3 Milliarden schulden dürfen, ohne einzuzahlen.
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Florian Kasser
Atomexperte
Die Axpo versichert, um Beznau Ⅰ stehe es besser, als von Insidern dargestellt.
Die Axpo versichert, um Beznau Ⅰ stehe es besser, als von Insidern dargestellt.
Stefan HäneDie Axpo äussert sich nun doch detaillierter zu den Schwachstellen im Atomkraftwerk Beznau Ⅰ. Die Darstellung des «Tages-Anzeigers» von gestern, die auf Insiderinformationen beruht, hält der Energiekonzern für irreführend. Zwei voneinander unabhängige Quellen haben von gegen 1000 Schwachstellen berichtet. Die Rede ist von Löchern mit einem durchschnittlichen Durchmesser von einem halben Zentimeter, eingeschlossen innerhalb der Stahlwände des Atomkraftwerks. Die Axpo hingegen spricht weder von Löchern noch von Schwachstellen, sondern von Anzeigen. Und sie betont: Tatsächlich sicherheitsrelevant seien nicht einzelne Anzeigen, sondern deren Häufung, sogenannte Cluster. Sie habe schon im Juli kommuniziert, sieben Cluster gefunden zu haben.
Damit sei die Lage in Beznau Ⅰ viel positiver als jene in den beiden belgischen Atomreaktoren Doel 3 und Tihange 2. Dort hatten Inspektoren vor drei Jahren Tausende kleiner Risse entdeckt. Die beiden Meiler mussten zwangsabgeschaltet werden. Ob sie je wieder ans Netz gehen, ist ungewiss. Die Axpo geht mit Blick auf Beznau Ⅰ weiter davon aus, «dass die Anzeigen keinen Vorbehalt für den sicheren Betrieb der Anlage darstellen». Diese Darstellung beruhigt die Atomkritiker nicht. «Auch sieben Cluster mit insgesamt 1000 Löchern stellen eine deutliche Schwächung des Druckbehälters dar», sagt Florian Kasser, Atomexperte bei der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Die Löcher seien durchschnittlich einen halben Zentimeter gross. Das heisst, es gebe auch grössere. Zur Einordnung: Die Stahlwand des Druckbehälters ist bis zu 17 Zentimeter dick, «die Schwächung also ausserordentlich», zeigt sich Kasser überzeugt. Greenpeace fordert die Axpo auf, alle Fakten über das Ausmass des Problems unverzüglich auf den Tisch zu legen.
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Aufsichts- und Regulierungsbehörden wie die Wettbewerbskommission oder das Heilmittelinstitut sollen unabhängiger werden. Das fordert die Geschäftsprüfungskommission (GPK) des Ständerats. Aus ihrer Sicht sind die heutigen Regeln mangelhaft. In einem gestern veröffentlichten Bericht empfiehlt die GPK dem Bundesrat, Massnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit solcher Gremien zu ergreifen. Vor allem die Wettbewerbskommission (Weko) kommt schlecht weg. Auch die Elektrizitätskommission (Elcom) und das Heilmittelinstitut (Swissmedic) stehen wegen mangelnder Regeln in der Kritik. Vergleichsweise gut bewertet werden dagegen die Finanzmarktaufsicht (Finma) und die Atomaufsichtsbehörde (ENSI), deren Unabhängigkeit immer wieder infrage gestellt wird. Untersucht wurden allerdings nur die jeweiligen Regeln und nicht die tatsächliche Unabhängigkeit bei einzelnen Entscheiden. (SDA)
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