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Die ver­schwie­gene TOP Gefahr

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Wie gut sind die Schwei­zer AKW ge­gen Flug­zeug­ab­stür­ze ge­schützt? Im De­zem­ber 2014 und im letz­ten Ap­ril ha­ben die AKW-Be­trei­ber der Atom­auf­sicht des Bun­des ENSI ak­tua­li­sier­te Be­rech­nun­gen zu die­ser Fra­ge ein­ge­reicht. Eine Pri­vat­per­son ver­lang­te dar­auf via Da­ten­schüt­zer Hans­pe­ter Thür Ein­sicht in die Do­ku­men­te. Thür lehn­te ab. Sei­ne Be­grün­dung: Die In­for­ma­tio­nen könn­ten für ter­ro­ris­ti­sche Zwec­ke ein­ge­setzt wer­den, was «auf­grund der Ge­fahr einer gross­räu­mi­gen ra­dio­ak­ti­ven Ver­strah­lung» schwer­wie­gen­de Fol­gen hät­te. Kri­ti­ker se­hen sich nun dar­in be­stä­tigt, dass die Re­ak­to­ren einem Flug­zeug­crash nicht stand­hal­ten wür­den. «Die AKW sind mit­nich­ten si­cher bei Flug­zeug­ab­stür­zen», sagt et­wa der frü­he­re Swiss­air-Pi­lot Max Tob­ler. (sth) — Seite 3 (hernach)

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Neue Zwei­fel an der Sicher­heit der AKW

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Der Bund will das Ri­si­ko von Flug­zeug­ab­stür­zen neu be­ur­tei­len. Ein un­ver­öf­fent­lich­tes Do­ku­ment des eid­ge­nös­si­schen Da­ten­schüt­zers spricht nun von «der Ge­fahr einer gross­räu­mi­gen TOP ra­dio­ak­ti­ven Ver­strah­lung».

Schaad

Hal­ten die Schwei­zer Atom­kraft­wer­ke dem Auf­prall eines Flug­zeugs stand?

Foto: Urs Jaudas

Schaad

Hal­ten die Schwei­zer Atom­kraft­wer­ke dem Auf­prall eines Flug­zeugs stand?

Foto: Urs Jaudas

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Stefan Häne

Fast wä­re es schon ein­mal pas­siert. Vor 45 Jah­ren stürz­te eine Swiss­air-Ma­schi­ne bei Wü­ren­lin­gen AG ab, nur 900 Me­ter vom Atom­kraft­werk Bez­nau ent­fernt. Ur­sa­che war ein Bom­ben­an­schlag, der eigent­lich der is­rae­li­schen Flug­ge­sell­schaft El Al ge­gol­ten hat­te. Die Ver­ant­wor­tung über­nah­men pa­läs­ti­nen­si­sche Ex­tre­mis­ten. Was, wenn das Flug­zeug in den Mei­ler ge­stürzt wä­re?

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Die Fra­ge ist heu­te so bri­sant wie da­mals: Hal­ten die Schwei­zer Atom­kraft­wer­ke dem Auf­prall einer Ma­schi­ne stand? Oder kä­me es zu einem GAU? Ein bis­lang un­ver­öf­fent­lich­tes Do­ku­ment des Eid­ge­nös­si­schen Da­ten­schutz- und Öf­fent­lich­keits­be­auf­trag­ten (Edöb) Hans­pe­ter Thür stellt die bis­he­ri­gen Si­cher­heits­ver­laut­ba­run­gen der Be­hör­den in ein neu­es Licht. Im sie­ben­sei­ti­gen Pa­pier, das dem TA vor­liegt, ist die Re­de von der «Ge­fahr einer gross­räu­mi­gen ra­dio­ak­ti­ven Ver­strah­lung». Die­se For­mu­lie­rung hat Thür im Rah­men eines Schlich­tungs­ver­fah­rens ge­wählt. Eine Pri­vat­per­son hat­te An­fang Jahr von der Atom­auf­sicht des Bun­des ENSI Trans­pa­renz in der be­sag­ten Fra­ge ver­langt, ge­stützt auf das Öf­fent­lich­keits­ge­setz. Doch das En­si wink­te ab: Die ent­spre­chen­den In­for­ma­tio­nen sei­en als ge­heim klas­si­fi­ziert. Dar­auf­hin ge­lang­te die Pri­vat­per­son an den Edöb.

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Ins Rol­len ge­bracht ha­ben den Fall neue Un­ter­su­chun­gen über die Fol­gen eines Flug­zeug­ab­stur­zes auf ein Atom­kraft­werk. Be­reits im Nach­gang zu den Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber 2001 muss­ten die Schwei­zer AKW-Be­trei­ber Stu­di­en da­zu durch­füh­ren. Zwei Jah­re spä­ter ver­si­cher­te die Vor­gän­ger­be­hör­de des En­si, die HSK: «Für die Kern­kraft­wer­ke Gös­gen und Leib­stadt konn­te ein Voll­schutz nach­ge­wie­sen wer­den.» Für die äl­te­ren An­la­gen Bez­nau und Müh­le­berg, die bei ih­rer Er­stel­lung vor rund 50 Jah­ren nicht ge­gen den Last­fall Flug­zeug­ab­sturz aus­ge­legt wur­den, sei der Schutz­grad eben­falls hoch, die Wahr­schein­lich­keit für die Frei­set­zung ra­dio­ak­ti­ver Stof­fe ge­ring.

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Kri­ti­sche deut­sche Ex­per­ten

Die­se Aus­sa­gen wa­ren schon da­mals um­strit­ten — nicht zu­letzt, weil die deut­sche Ge­sell­schaft für Re­ak­tor­si­cher­heit des Bun­des­mi­ni­ste­ri­ums die Si­cher­heits­fra­ge 2002 weit kri­ti­scher be­ur­teilt hat­te. Der ge­ziel­te Ab­sturz eines Ver­kehrs­flug­zeugs, so be­fan­den die deut­schen Ex­per­ten, kön­ne spe­zi­ell bei den äl­te­ren Mei­lern in Deut­schland zu einem GAU füh­ren. Die da­ma­li­ge Na­tio­nal­rä­tin und heu­ti­ge Stadt­ber­ner Exe­ku­tiv­po­li­ti­ke­rin Fran­zis­ka Teu­scher (Grü­ne) woll­te die­se Dif­fe­renz be­grün­det ha­ben. Doch we­der der Bun­des­rat noch das En­si äus­ser­ten sich je er­hel­lend da­zu.

Neue Flug­zeuge wie der Air­bus A380 stel­len grund­sätz­lich ein an­de­res Ri­si­ko dar als äl­te­re Ma­schi­nen.

Neue Flug­zeuge wie der Air­bus A380 stel­len grund­sätz­lich ein an­de­res Ri­si­ko dar als äl­te­re Ma­schi­nen.

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Zehn Jah­re spä­ter, 2013, wies das En­si die AKW-Be­trei­ber an, die Un­ter­su­chun­gen aus dem Jahr 2003 zu ak­tua­li­sie­ren. Die­se Mass­nah­me war nicht zu­letzt der tech­ni­schen Ent­wick­lung ge­schul­det: Neue Flug­zeu­ge wie der Air­bus A380 stel­len grund­sätz­lich ein an­de­res Ri­si­ko dar als je­ne Flug­zeu­ge, mit de­nen die Be­rech­nun­gen nach 9/11 er­folg­ten. Re­fe­ren­zma­schi­ne war da­mals eine Boe­ing 707, die cir­ca fünf­mal leich­ter als ein A380 ist. Zu­dem er­mit­tel­ten die Fach­leu­te die Fol­gen eines Auf­pralls auf der Ba­sis einer Ge­schwin­dig­keit von 370 km/h. Zum Ver­gleich: Bei 9/11 steu­er­ten die Ter­ro­ris­ten das ent­führ­te Flug­zeug, eine Boe­ing 757, mit mehr als 800 km/h ins Pen­ta­gon.

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Noch 2013 ar­gu­men­tier­te das En­si, bei einem vor­sätz­li­chen Flug­zeug­ab­sturz sei zwar mit schwe­ren Per­so­nen- und Sach­schä­den im AKW zu rech­nen, die Wahr­schein­lich­keit für die Frei­set­zung ra­dio­ak­ti­ver Stof­fe be­ur­teil­te die Atom­auf­sicht aber als «nied­rig». Die Kol­li­si­on eines Flug­zeugs mit einem Re­ak­tor­ge­bäu­de ver­glich das En­si mit dem An­prall eines wei­chen Ge­schos­ses auf einen schwe­ren Kör­per. Da­bei wer­de das Flug­zeug völ­lig zer­stört, wäh­rend der Atom­mei­ler, ähn­lich einer sehr star­ren Fe­der, nur we­nig nach­ge­be und nach dem Crash prak­tisch wie­der in sei­ne Aus­gangs­stel­lung zu­rück­keh­re.

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Ob die neu­en Un­ter­su­chun­gen die­sen Schluss wei­ter­hin zu­las­sen, ist un­klar. Fakt ist hin­ge­gen: Die Er­geb­nis­se lie­gen vor. Im De­zem­ber 2014 ha­ben laut dem Edöb-Be­richt die AKW-Be­trei­ber der Atom­auf­sicht des Bun­des eine Aus­wer­tung der Flug­si­mu­la­ti­ons­ver­su­che ein­ge­reicht. Zu­sätz­lich ha­ben sie dem En­si im letz­ten Ap­ril an­la­ge­spe­zi­fi­sche Be­rech­nun­gen und Un­ter­la­gen zu­ge­stellt. Über die Re­sul­ta­te ver­lang­te die ein­gangs er­wähn­te Pri­vat­per­son Klar­heit.

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Thür und ENSI schwei­gen

Ausriss
Aus­riss aus dem Pa­pier des Eid­ge­nös­si­schen Daten­schutz­be­auf­trag­ten vom 16. Sep­tem­ber 2015.
Ausriss
Aus­riss aus dem Pa­pier des Eid­ge­nös­si­schen Daten­schutz­be­auf­trag­ten vom 16. Sep­tem­ber 2015.

Doch der Da­ten­schutz­be­auf­trag­te Thür lehnt die Her­aus­ga­be ab, wie aus sei­nen Aus­füh­run­gen her­vor­geht. Um si­cher­zu­stel­len, dass das En­si die Do­ku­men­te zu Recht als ge­heim klas­si­fi­zie­re, traf sich Thür laut sei­nen Aus­füh­run­gen im Schlich­tungs­ver­fah­ren im August mit Ex­po­nen­ten der Atom­auf­sicht. Da­bei er­hielt er Ein­blick in die neu­en Un­ter­suc­hun­gen, TOP die cir­ca 3300 Sei­ten um­fas­sen. Das En­si leg­te ihm dar, eine Of­fen­le­gung der Be­rich­te sei ein «ernst­haf­tes Ri­si­ko», es sei den­kbar, dass die ver­öf­fent­lich­ten In­for­ma­tio­nen «für ter­ro­ri­sti­sche Zwec­ke ein­ge­setzt wer­den könn­ten». Was es mit der eben­falls er­wähn­ten «Ge­fahr einer gross­räu­mi­gen ra­dio­ak­ti­ven Ver­strah­lung» auf sich hat, bleibt un­klar. Der ent­spre­chen­den Pas­sa­ge im Schlich­tungs­ver­fah­ren will Thür, in den 90er-Jah­ren Prä­si­dent der Grü­nen Par­tei der Schweiz, nichts hin­zu­fü­gen. Der Satz sei so ge­meint, wie er ge­schrie­ben ste­he, teilt ein Spre­cher auf An­fra­ge mit.

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Auch das En­si schweigt da­zu: Man wick­le Schlich­tungs­ver­fah­ren nicht in der Öf­fent­lich­keit ab, so die Atom­auf­sicht. Die Schweiz ha­be 2008 das Über­ein­kom­men über den phy­si­schen Schutz von Kern­ma­te­ri­al und Kern­an­la­gen ra­ti­fi­ziert und sich da­mit in­ter­na­tio­nal zur Ver­trau­lich­keit ent­spre­chen­der In­for­ma­tio­nen ver­pflich­tet. De­tail­lier­te An­ga­ben zu sen­sib­len Da­ten ta­xiert das En­si «aus ver­ständ­li­chen Grün­den» als ge­heim.

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Ex-Swiss­air-Pi­lot kri­ti­siert ENSI

Kri­ti­ker ge­ben sich mit die­ser Ant­wort nicht zu­frie­den. «Die Atom­kraft­wer­ke sind mit­nich­ten si­cher ge­gen Flug­zeug­ab­stür­ze», sagt der ehe­ma­li­ge Swiss­air-Pi­lot Max Tob­ler, der heu­te als Flug­si­mu­la­tor-In­struk­tor ar­bei­tet. Das En­si, so be­wei­se Thürs Satz, ha­be mit der neu­en Un­ter­su­chung schwarz auf weiss er­hal­ten, was es sel­ber ver­leug­ne, je­der Pi­lot aber schon im­mer ge­wusst ha­be: dass es ein Leich­tes sei, mit einem schwe­ren Flug­zeug auch mit ho­her Ge­schwin­dig­keit in ein AKW zu flie­gen. «Mit einem mög­li­cher­wei­se schwe­ren Atom­un­fall als Fol­ge.»

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Tob­lers Dar­stel­lung bleibt bis auf wei­te­res eine nicht über­prüf­ba­re Be­fürch­tung. Das En­si wird frü­hes­tens im ers­ten Quar­tal 2016 sei­ne Stel­lung­nah­me zu den Stu­di­en ver­öf­fent­li­chen und da­mit auch den «ad­mi­ni­stra­ti­ven Ent­scheid» dar­über, ob die AKW-Be­trei­ber die Si­cher­heit ih­rer Mei­ler ver­stär­ken müs­sen — ein Ent­scheid mit po­li­ti­schem Zünd­stoff, bräch­ten doch et­wa bau­li­che Mass­nah­men ho­he Kos­ten für die AKW-Be­trei­ber, die fi­nan­zi­ell oh­ne­hin schon mit Wid­rig­kei­ten zu kämp­fen ha­ben. Die­ser Bri­sanz ist sich of­fen­bar auch Thür be­wusst: Die Of­fen­le­gung der Un­ter­su­chung, so schreibt er im Schlich­tungs­ver­fah­ren, wür­de die «Mei­nungs- und Ent­scheid­bil­dung» des En­si be­ein­träch­ti­gen.

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Eine an­de­re Fra­ge ist, ob Nach­rüs­tun­gen bei Mei­lern über­haupt mög­lich sind. Die­ter Ma­jer, ehe­ma­li­ger Chef der deut­schen Atom­auf­sicht, hält dies zu­min­dest bei deut­schen AKW für tech­nisch nicht mög­lich, wie er 2013 in einem Gut­ach­ten dar­ge­legt hat. Um die «nicht hin­nehm­ba­ren Ri­si­ken» zu ver­mei­den, so fol­ger­te er, blei­be da­her nur ein Weg: die Atom­kraft­wer­ke ab­schal­ten.

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