Elektrifizierung in der Schweiz: Installation eines Elektroherds in Riemenstalden, Schwyz, 1950.
Foto: Jules Vogt (Keystone, Photopress)
Elektrifizierung in der Schweiz: Installation eines Elektroherds in Riemenstalden, Schwyz, 1950.
Foto: Jules Vogt (Keystone, Photopress)
«Deutschland begann uns im 1. Weltkrieg zu erpressen.»
Christian Pfister, Umwelthistoriker
Wenn es um grosse Fragen geht, blickt
man gerne in die Vergangenheit zurück.
Wie haben es unsere Grossväter und Urgrossväter
gemacht? Bei der Volksabstimmung
in zehn Tagen geht es um eine
Weichenstellung in der Energieversorgung:
Einem dezentralen Energiesystem,
das vor allem auf Elektrizität aus erneuerbaren
Energiequellen setzt, stehen
Atomstrom und fossile Energie
gegenüber. Schon einmal musste sich
die Schweiz entscheiden, welchen Weg
sie nehmen will: Kohle oder Wasserkraft.
Das war vor hundert Jahren, nach
der grössten Energiekrise des Landes.
Der Berner Umwelthistoriker Christian
Pfister hat zusammen mit Kollegen
der Universität Bern die Energiemisere
der Schweiz im Ersten Weltkrieg akribisch
aufgearbeitet. Es ist die Geschichte
einer Entwicklung, die damals niemand
vorhersehen konnte — oder wollte. Sie
beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts: An
«Deutschland begann uns im 1. Weltkrieg zu erpressen.»
Christian Pfister, Umwelthistoriker
künftige Krisenzeiten denkt niemand, es
ist der Beginn der Industrialisierung.
So ist auch die zunehmende Abhängigkeit
von Kohle aus Deutschland bis Ende des
19. Jahrhunderts kein Thema. Kohle
steht für Fortschritt, sie ist das energetische
Rückgrat für den Aufbau der heutigen
Industrie: Metall- und Maschinenindustrie,
Fahrzeugbau, Chemische Industrie,
Nahrungsmittelindustrie — sie
alle benötigen Prozesswärme. «Mit der
Eröffnung des Hauensteintunnels zwischen
Olten und dem basellandschaftlichen
Tecknau am 1. Mai 1858 begann das
Zeitalter der fossilen Energie», schreibt
Christian Pfister im Buch «Woche für
Woche neue Preisaufschläge», das Ende
letzten Jahres erschienen ist.
Zuvor ist die Schweizer Energieversorgung praktisch autark. 90 Prozent der Primärenergie stammen von der Holzverbrennung. Mit dem Kohleabbau und dem Aufbau der Eisenbahn wird in Europa die Industrialisierung beschleunigt. Auch in der Schweiz. Der Hauensteinbahntunnel eröffnet eine Transportlinie vom Mittelland nach Basel und weiter über das oberrheinische Eisenbahnnetz bis zu den deutschen Kohlegruben der Saar und der Ruhr.
Mit Kohle laufen Eisenbahnen, Dampfschiffe und Fabriken, Kohlegas kommt vor allem bei der Beleuchtung in den Städten zum Einsatz. Zentralheizungen in städtischen Häusern verfeuern Koks. Mit der Entwicklung erster elektrischer Netze in den USA wird elektrischer Strom auch in der Schweiz allmählich ein Thema. Ende des 19. Jahrhunderts wechseln manche Städte vom Gaslicht auf die elektrische Glühlampe. Kleine Wasserkraftwerke produzieren dabei den Strom, der aber nur kleinräumig zur Verfügung steht. Als Strom auch über weite Strecken transportierbar wird, entstehen in den 1890er-Jahren an den Flüssen erste Laufkraftwerke.
Gesamthaft spielt Elektrizität vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz aber keine Rolle. Das Land importiert 90 Prozent der Kohle aus Deutschland, der Rest stammt aus Frankreich und Belgien. Das geht im ersten Jahr nach Kriegsausbruch am 28. Juli 1914 noch gut, weil Deutschland auf Devisen angewiesen ist. Doch ein Jahr später ändert sich das, weil es nicht der von den Deutschen erwartete schnelle Krieg wird und sich ein Wirtschaftskrieg entwickelt. «Deutschland begann, uns zu erpressen», sagt Christian Pfister. Berlin verlangt etwa von der Schweiz eine zentrale Behörde, welche die importierte Kohle so verteilt, dass die deutsche Energie nicht für feindliche Rüstungsprodukte eingesetzt wird. Deutschland liefert Kohle nur noch gegen Kreditleistungen der Schweiz. Weil ein neutraler Staat sich nicht auf solche Händel einlassen darf, finanzieren Schweizer Banken die Kredite.
Auch Deutschland selbst leidet allmählich an Kohlenot, entsprechend nimmt der Import ab. Ab August 1918 sind in der Schweiz alle Brennstoffe rationiert. Die Schweizer Regierung zahlt für eine Tonne deutsche Kohle auf heute umgerechnet 3'280 Franken: Das ist das Sechs- bis Siebenfache des deutschen Inlandpreises. Hinzu kommt, dass die ersten Monate im Jahr 1917 und der Dezember 1918 zu den kältesten gehören seit Beginn der Temperaturmessungen 1864.
Die Bevölkerung leidet unter der Energiekrise. «In den städtischen Mietskasernen schlotterten die Bewohner nicht nur in ihren schlecht geheizten Wohnungen, sie mussten auch kalt essen», schreibt Pfister. Arme können sich Kohle nicht mehr leisten. Zweieinhalbmal weniger Personenzüge verkehren auf dem Bahnnetz.
An Sonntagen fahren keine mit Dampf betriebenen Eisenbahnen mehr. Die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn fährt jedoch nach Fahrplan, selbst im kohleärmsten Winter 1918/19: Sie ist die erste elektrische Gebirgsbahn der Welt. «Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war sich die Bevölkerung bewusst, dass sich etwas in der Energieversorgung ändern musste», sagt Pfister.
Die Bevölkerung leidet unter der Energiekrise. «In den städtischen Mietskasernen schlotterten die Bewohner nicht nur in ihren schlecht geheizten Wohnungen, sie mussten auch kalt essen», schreibt Pfister. Arme können sich Kohle nicht mehr leisten. Zweieinhalbmal weniger Personenzüge verkehren auf dem Bahnnetz. An Sonntagen fahren keine mit Dampf betriebenen Eisenbahnen mehr. Die Bern-Lötschberg-Simplon-Bahn fährt jedoch nach Fahrplan, selbst im kohleärmsten Winter 1918/19: Sie ist die erste elektrische Gebirgsbahn der Welt. «Gegen Ende des Ersten Weltkriegs war sich die Bevölkerung bewusst, dass sich etwas in der Energieversorgung ändern musste», sagt Pfister.
Dank der Kohleknappheit wird die elektrische Beleuchtung marktreif. Schon während des Krieges steigt die Zahl der Elektroherde von 1'000 auf 24'000. Der Bau von Laufkraftwerken wird zwischen 1918 und 1920 forciert. Einzig die SBB hält sich zurück. Eine Elektrifizierung des Bahnnetzes wird als zu teuer eingestuft. «Die Eröffnung der elektrischen Gebirgsbahn am Lötschberg hat sie davon überzeugt, dass eine Elektrifizierung technisch machbar ist», sagt Pfister. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 sind knapp vier Fünftel des Schienennetzes elektrifiziert.
In der Nachsicht der Historiker war der radikale Umbau wirtschaftlich unvernünftig. Trotzdem erweist sich der Entscheid als Vorteil: Als im Zweiten Weltkrieg in Europa die Versorgung mit fossilen Brennstoffen erneut zusammenbricht, ist die Abhängigkeit der Schweiz von Deutschland weit geringer: Die Stromproduktion durch Wasserkraft hat sich durchgesetzt.
Heute ist die Schweizer Energieversorgung wieder zum grössten Teil vom Ausland abhängig, weil der Konsum von Erdöl und Gas im letzten halben Jahrhundert stark zugenommen hat. Zudem will die Schweiz aus der Kernkraft aussteigen. «In diesem Sinn herrscht auch heute ein grosser Druck auf die Politik, doch der Kopf sagt heute Ja zu einem Richtungswechsel, der Bauch jedoch Nein», so Pfister. Seine Begründung: «Die letzte Erdölkrise 1973 war eigentlich nur eine Pseudokrise, die nicht richtig wehtat. Bis jetzt sind wir immer davongekommen.»
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Die Abstimmungszeitung der SVP ist gespickt mit Argumenten gegen die Energiestrategie 2050. Kein Wort verliert die Partei dagegen über die Kernfrage, um die es am 21. Mai geht: Wie soll die Schweiz ihre Stromversorgung sichern, wenn die fünf bestehenden Atomkraftwerke dereinst vom Netz gehen?
Weshalb die SVP dazu nichts schreibt, darüber gibt es verschiedene Sichtweisen. Im letzten November lehnten 54 Prozent der Stimmberechtigten die Atomausstiegsinitiative ab. Den Ausschlag für das Nein gab laut einer Voto-Studie das hohe Tempo (Ausstieg bis 2029), nicht aber der Ausstieg an sich. Diesen wünschen sich 76 Prozent der Stimmenden, was just dem Ziel der Energiestrategie 2050 entspricht. Die Gegner der SVP vermuten in diesem Befund den Grund, warum die Partei das Thema meidet. SVP-Präsident Albert Rösti bestreitet dies: «Bei einem Nein am 21. Mai besteht kein unmittelbarer Handlungsbedarf.» Deshalb habe die SVP auch ihre Zukunftsszenarien nicht in der Abstimmungszeitung aufgeführt.
Welches Ziel die SVP verfolgt, zeigt ihr jüngstes Positionspapier zur Energiepolitik. Die SVP rechnet dort mit AKW-Laufzeiten von mindestens 60 Jahren. Die beiden jüngsten Meiler, Gösgen und Leibstadt, würden um 2040 respektive 2045 vom Netz gehen. Den wegfallenden Strom will die SVP durch neue Technologien wie etwa die Tiefengeothermie ersetzen oder, falls diese noch nicht einsatzbereit wären, durch zwei neue AKW.
Den Wegfall der drei älteren und kleineren Meiler — Mühleberg sowie Beznau Ⅰ und Ⅱ — bis circa 2030 will die SVP mit verschiedenen Massnahmen kompensieren, dazu gehört nebst dem Ausbau der Wasserkraft ein weiterer neuer Atommeiler. Die SVP fordere daher eine «möglichst baldige» Abstimmung über ein neues AKW, heisst es im Papier.
Wird die SVP also bei einem Sieg am übernächsten Sonntag auf einen solchen Urnengang hinarbeiten? Rösti winkt ab: Der Atomausstieg, den die Energiestrategie 2050 gesetzlich verankern will, ergebe sich so oder so. Seit der Erstellung des Positionspapiers 2012 habe sich die wirtschaftliche Situation derart verändert, dass hierzulande auf absehbare Zeit niemand ein neues AKW baue. Rösti verweist auf die Stromkonzerne, die 2016 beim Bund ihre Gesuche zum Bau neuer AKW zurückgezogen haben.
Hätte die SVP ihr Positionspapier dieser ökonomischen Realität nicht längst anpassen müssen? Nein, findet Rösti. Die Stossrichtung stimme nach wie vor, nur der Teil mit den AKW sei überholt. Daraus ergibt sich laut Rösti eine neue Ausgangslage: Wie bereits vom Bundesrat dargelegt, werde sich die Schweiz entscheiden müssen, ob sie ein oder mehrere Gaskombikraftwerke bauen oder mehr Strom importieren wolle. Nur: Beide Optionen wären nicht im Sinn der SVP, strebt sie doch nach eigenen Angaben eine «umweltschonende» und möglichst auslandunabhängige Energiepolitik an. Rösti bestreitet das nicht, sagt aber: «Wir müssen uns nicht sofort entscheiden. Wer kennt schon die technischen Möglichkeiten in 20 bis 25 Jahren?»
Pikant ist schliesslich, dass die SVP in ihrem Positionspapier eines der drei kleinen AKW mit dem Ausbau neuer erneuerbaren Energien ersetzen will. Doch in ihrer Abstimmungszeitung stellt die SVP diese Energieträger als Gefahr für die Versorgungssicherheit und die Landschaft dar. Rösti sieht darin keinen Widerspruch. Er verweist darauf, dass bei einem Nein am 21. Mai die Förderung der neuen erneuerbaren Energien weiterläuft — einfach nicht in stärkerem Ausmass als bislang. Dies erhöhe den finanziellen Spielraum, um die Wasserkraft zu stärken, so Rösti. Anders als Wind- und Sonnenenergie liefere diese zuverlässig Bandstrom und sei daher am besten geeignet, den wegfallenden Atomstrom zumindest teilweise zu ersetzen.
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