Die Energiestrategie und die Debatte, die das Parlament darüber führen wird, sind rekordverdächtig: Schon die Gesetzesvorlage des Bundesrates umfasst vierzig Seiten. Formell sieht diese eine Revision des Energie-, des CO2-, des Atomgesetzes und weitere Gesetzesänderungen vor. Inhaltlich beantragt der Bundesrat zahlreiche Gebote, Verbote, Förderabgaben, Subventionen und weitere Massnahmen mit dem Ziel, die Energieeffizienz zu steigern und den Umstieg von nuklearer und fossiler auf erneuerbare Energie einzuleiten.
Zu dieser Multivorlage beantragt die Energiekommission
(Urek) dem Nationalrat rund 250 Änderungen.
Linke und Grüne wollen die Energiewende damit verstärken
und beschleunigen.
Anträge aus SVP und Freisinn hingegen verfolgen die Absicht,
die Energiestrategie
Selbst nach dem optimistischen Fahrplan des Bundes kann die Vorlage
zur Energiewende frühestens 2017 in Kraft treten.
des Bundesrates zu verhindern oder zumindest abzuschwächen.
Die Mitteparteien sorgen bei diesen Anträgen
für wechselnde Mehr- und Minderheiten (vgl. Tabelle).
Damit stellt sich die Frage: Wie viel von der bundesrätlichen
Energiestrategie bleibt übrig,
wenn sich alle Mehrheitsanträge der vorberatenden
Kommission im Nationalrat durchsetzen?
«Etwa 80 Prozent», antwortete der Direktor des federführenden Bundesamtes für Energie, Walter Steinmann, gegenüber dieser Zeitung.
Abstriche drohen bei Massnahmen, mit denen der Bundesrat die Energieeffizienz steigern will. So lehnt es die Mehrheit der Energiekommission unter anderem ab, Stromverkäufer zu verpflichten, die Energieeffizienz ihrer Kundschaft zu fördern. Ebenfalls keine Mehrheit fand bei der Urek der Antrag des Bundesrates, die CO2-Abgabe auf fossilen Brennstoffen von heute 36 auf mindestens 84 Franken zu erhöhen. Damit beugt sie sich dem Druck der Öl- und Stromlobby.
In vielen wesentlichen Punkten hingegen konnte sich den Bundesrat durchsetzen. So unterstützt die Mehrheit der Kommission unter anderem die Vorschriften, die den Energieverbrauch von neuen Geräten und Anlagen oder den CO2-Ausstoss von neuen Autos begrenzen. Zusätzlich verlangt die Urek auch nationale Mindestanforderungen für Heizungen. Die Fördermassnahmen für erneuerbare Energie werden von der UrekMehrheit ebenfalls ohne wesentliche Änderungen mitgetragen.
Auch das Verbot von neuen Atomkraftwerken, welches das Parlament schon früher beschlossen hatte, fand in der Urek erneut eine Mehrheit. Gleichzeitig lehnen es Bundesrat und Urek-Mehrheit weiterhin ab, die Laufzeit von alten Atomkraftwerken zu begrenzen. Das viel diskutierte «Langzeitbetriebskonzept», das die Mehrheit der Urek neu beantragt, verändert zwar die Bewilligungspraxis, bringt aber ebenfalls keine Altersgrenze für alte AKW.
Darum werden die Grünen ihre «Ausstiegsinitiative» kaum zurückziehen; diese erlaubt für die bestehenden AKW in der Schweiz maximal 45 Jahre Laufzeit.
Für die Debatte und die Beschlussfassung zur neuen Energiestrategie hat allein der Nationalrat
in der Wintersession ab heute insgesamt zwanzig Stunden Zeit eingeplant.
Danach wird der Ständerat darüber streiten.
Falls die bereinigte Strategie im Parlament eine Mehrheit
findet und das fakultative Referendum
Bundesrat und Kommissionsmehrheit lehnen es weiterhin ab,
die Laufzeit von alten Atomkraftwerken zu begrenzen.
gegen Teile der Vorlage ergriffen wird, entscheidet das Volk darüber.
Selbst nach dem optimistischen Fahrplan des Bundes kann die
Vorlage zur Energiewende frühestens 2017 in Kraft treten.
Einige der 250 Mehr- und Minderheitsanträge wirken sich nur sprachkosmetisch aus. Zum Beispiel: Während der Bundesrat «Ziele» für den Energieverbrauch und die Stromproduktion aus erneuerbarer Energie festlegte, machte die Energiekommission daraus «Richtwerte». Oder sie ersetzt die bundesrätliche Formulierung «rationell» durchgehend durch «effizient». Bei andern Anträgen und Gegenanträgen hingegen geht es um Sein oder Rückweisung der neuen Strategie oder letztlich um die Frage, ob die Schweizer Energiepolitik konsequent oder nur halbbatzig gewendet wird.
Hanspeter Guggenbühl
⋆ ⋆ ⋆
Fukushima 2011: Die Nuklearkatastrophe in Japan war der Auslöser dafür, dass auch die Schweiz die Weichen auf Atomausstieg gestellt hat.
(Keystone)
Fukushima 2011: Die Nuklearkatastrophe in Japan war der Auslöser dafür, dass auch die Schweiz die Weichen auf Atomausstieg gestellt hat.
(Keystone)
FINANZKONTROLLE
Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) kommt in einem gestern veröffentlichten Bericht zum Schluss, dass der Einfluss der AKW-Betreiber auf den AKW-Stilllegungs- und Entsorgungsfonds zu bedeutend sei. Der Fonds sei ausserdem zu wenig stark dotiert. Die EFK schlägt deswegen die Schaffung einer unabhängigen öffentlichen Einrichtung vor. Die vom Bundesrat im Juni beschlossene Revision der Stilllegungs- und Entsorgungsfondsverordnung werde zwar ab dem 1. Januar 2015 merkliche Verbesserungen in der Frage der finanziellen Mittel bringen, schreibt die EFK im Bericht. Die Beiträge der AKW-Betreiber seien allerdings auf der Basis eines idealen Szenarios berechnet.
Risiken wie Rechtsunsicherheit oder Kostensteigerungen seien in den bisherigen Berechnungen noch nicht berücksichtigt worden. Die EFK schlägt dem Eidgenössischen Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (Uvek) in ihrem Bericht deshalb vor, neue Kostenstudien mit verschiedenen Szenarien zu rechnen.
Der Fonds für die Stilllegung von Kernanlagen enthielt Ende 2013 Mittel in Höhe von rund l,7 Milliarden Franken. Nach den Schätzungen einer vom Bund in Auftrag gegebenen und 2011 veröffentlichten Kostenstudie sind aber rund 2,9 Milliarden erforderlich. Im Fonds für die Entsorgung der Nuklearabfälle werden gemäss derselben Studie für die Kosten ab Ausserbetriebnahme rund 8,4 Milliarden benötigt. Verfügbar sind heute erst 3,6 Milliarden Franken.
Kämen die AKW-Betreiber ihren finanziellen Verpflichtungen bei beiden Fonds nicht nach, laufe der Bund Gefahr, die fehlenden Mittel bereitstellen zu müssen, stellt die EFK fest. Auch bei der Verwaltung der Fonds schlägt die EFK Änderungen vor. Sie ist der Meinung, dass die AKW-Vertreter in der Kommission und anderen Organen der Fonds zu viel Einfluss haben. Dieses Ungleichgewicht kann nach Ansicht der EFK durch die Überführung der beiden Fonds in eine rechtlich selbstständige und von unabhängigen, Vertretern geführte öffentliche Einrichtung behoben werden. Zudem empfiehlt die EFK dem Uvek, die Zuständigkeiten für den Vollzug und die Aufsicht zu entflechten.
Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) hat Konsequenzen gezogen und ist Anfang September aus dem Kostenausschuss des Stilllegungs- und Entsorgungsfonds ausgetreten, wie die Atomaufsichtsbehörde gestern bekannt gab. Als Grund gibt das Ensi seine Kontrollfunktion an.
Die Betreiber der Kernkraftwerke distanzieren sich in einer Mitteilung vom EFK-Prüfbericht. Die zentralen Darstellungen und Schlussfolgerungen und die daraus abgeleiteten Empfehlungen träfen nicht zu, weil sie auf falschen Prämissen beruhten. Das finanzielle Risiko für den Bund sei äusserst gering, schreibt Swisselectric, die Organisation der grossen schweizerischen Stromverbundunternehmen.
sda.⋆ ⋆ ⋆