Im August 1836 protestierten in Flawil, Wiedikon, Reiden, Wohlenschwil, Münsingen und in Genf etwa 50'000 Männer gegen die Verschärfung der Asylpolitik. Da die Schweiz heute fast viermal mehr Einwohner hat und da die Frauen und Kinder nicht mitgezählt wurden, entspricht die damalige Zahl einer heutigen von 200'000 Demonstrierenden. Die Massenkundgebungen richteten sich gegen ein sogenanntes Fremdenkonklusum, das die Tagsatzung unter dem Druck der Grossmächte der «Heiligen Allianz» (namentlich Frankreich, Preussen und Russland) beschlossen hatte. Das Konklusum schränkte die grosszügige Asylpraxis der liberalen Kantone ein und führte zur Ausweisung von Flüchtlingen wie des italienischen Freiheitskämpfers Giuseppe Mazzini.
Die erste der sechs Versammlungen fand am 7. August im st.-gallischen Flawil statt. 8'000 Männer protestierten gegen den asylfeindlichen Beschluss und gegen den Druck, den die konservativen Mächte ausübten. Sie forderten die Tagsatzung auf, die «Unabhängigkeit und Freiheit des Vaterlandes» würdiger zu wahren. In einer weiteren Resolution verlangten sie die Bildung eines Verfassungsrates zur Ausarbeitung einer Bundesverfassung. Für die europäischen Kabinette wurde «Flawilisieren» zu einem Schimpfwort. Es stand für Revolution. Die verängstigte Tagsatzung lehnte die Flawiler Forderungen ab und strich sogar deren Erwähnung wieder aus den Protokollen.
Der wichtigste Kopf der damaligen Bewegung für eine offene und souveräne Flüchtlingspolitik war der in Beromünster geborene, in Aarau wohnende Arzt und Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler. Der «radikale Feuerkopf» ist neben dem späteren Bundesrat Henry Druey, einem Waadtländer Rechtsanwalt und Philosophen, die wichtigste Gründerpersönlichkeit des Freisinns oder der Radicaux, wie sie sich in der Romandie heute noch nennen. Die Asylbewegung der zweiten Hälfte der 1830er-Jahre spielte eine entscheidende Rolle in der Herausbildung des Radikalismus aus dem Liberalismus. Dieser befand sich, fünf Jahre nachdem ihm die Regeneration der meisten Kantone gelungen war, in einer tiefen Krise. Er war unfähig, die kantonalen Hürden, welche die Schaffung einer Schweizer Nation verhinderten, abzubauen. Er verhielt sich anpasserisch gegenüber den reaktionären Kreisen im In- und Ausland. Und er war zu elitär, um die Politisierung und Mobilisierung der eigenen Basis umsetzen zu können.
Troxler und Druey hingegen sahen darin eine Chance. In der angesehenen «Appenzeller Zeitung» schrieb Troxler über die von ihm «Volkstagsatzungen» genannten Kundgebungen: «Sie sind eine leibhaftige Erscheinung der Volkssouveränität. Sie sind das Auftreten einer Nation, die sich selbst konstituiert und organisiert. Sie sind das Auftreten eines Volkes, das seinen Obrigkeiten leitende Gesichtspunkte, Ideen gibt, nach denen es seine Nationalangelegenheiten behandelt haben will.» Über die von ihm am stärksten beeinflusste «Flawiler Versammlung» hielt er fest: «Sie war eine reine Volkserhebung für die Nationalsache, ohne alles Ansehen der Kantone und der Kantonalität.» Druey hielt lakonisch fest, dass die Volksversammlungen zugunsten der Flüchtlinge «dem Vaterland einen hervorragenden Dienst erwiesen» haben. Damit meinte er insbesondere deren Überwindung der kantonalen Grenzen.
Die Massenbewegung für das Asylrecht stärkte die Souveränität in deren dreifachen Sinne: Indem sie die kantonalen Grenzen sprengte, schwächte sie den Kantönligeist und beförderte das Nationalbewusstsein. Indem sie die Bürger direkt einbezog, schwächte sie die konservativen und gemässigtliberalen Eliten und stärkte die Volksrechte. Indem sie gegenüber der Heiligen Allianz selbstbewusst auftrat, schwächte sie die Tagsatzung und bekräftigte die nationale Selbstbestimmung. Vor allem aber veränderte sie das Kräfteverhältnis zwischen dem laut Troxler «lauen und flauen Liberalismus» zugunsten jenes freisinnigen Radikalismus, der im folgenden Jahrzehnt den Bundesstaat erkämpfte.
Die Asylbewegung stärkte zusätzlich die grenzüberschreitende Identität der fortschrittlichen Mehrheit der damaligen Schweiz. Im «Handbuch der Schweizer Geschichte» (1977) schrieb der Lausanner Geschichtsprofessor Jean-Charles Biaudet über deren Selbstverständnis: «Die Bevölkerung in den regenerierten Kantonen steht mit Geist und Seele auf der Seite der Flüchtlinge, in denen sie die Vorkämpfer jener Freiheit erkennt, auf der ihre kantonalen Verfassungen gründen.» Souveränität und Identität verbindet er mit folgender Aussage: «Das ganze Verdienst einer würdigeren, mutigeren Haltung fällt der linken Opposition, fällt den Radikalen zu.» Und diese hatten ein Verständnis von Nation, die der Welt das Gesicht und nicht den Rücken zuwandte.
Besonders stark waren die Radikalen im Kanton Solothurn. Hier hatte Giuseppe Mazzini, die meistgesuchte Person Europas, Anfang 1835 Aufnahme gefunden, nachdem er vom Kanton Bern ausgewiesen worden war. Allerdings hatte der italienische Revolutionär, der seit 1831 in der Schweiz weilte, im Februar 1834 mit anderen Flüchtlingen eine bewaffnete Expedition nach Savoyen durchgeführt, um im Königreich Piemont einen Volksaufstand auszulösen. Nach dem Scheitern des miserabel organisierten Unternehmens setzte der österreichische Fürst Klemens von Metternich, der Kopf der Heiligen Allianz, die Eidgenossenschaft massiv unter Druck.
Mazzini wohnte in Grenchen im Arzthaus von Josef Girardet, einem Freund des Landammanns und Tagsatzungsabgeordneten Josef Munzinger.
Konservatismus löste den Liberalismus als Leitkultur ab.
Konservatismus löste den Liberalismus als Leitkultur ab.
Die Beteuerung des späteren Bundesrats, nicht zu wissen, wo sich Mazzini aufhalte, war nach einer Razzia der Zürcher Polizei nicht mehr glaubwürdig. Diese hatte bei deutschen Flüchtlingen Dokumente gefunden, die Mazzinis Versteck aufdeckten. Munzinger liess Mazzini umgehend verhaften und liess ihn nach 24 Stunden wieder frei — mit der Auflage, aus dem Kanton wegzuziehen. Agostino Ruffini, ein weiterer italienischer Flüchtling, der in Grenchen untergetaucht war, berichtete über den Triumphzug von Solothurn nach Grenchen: «Die Dörfer unterwegs sind im Tumult. In Grenchen erwartet uns eine ungeheure Menge, während uns in der Allee die Musik entgegenkommt.» Die Gemeindeversammlung versuchte, die italienischen Freiheitskämpfer zu schützen, indem sie ihnen das Bürgerrecht gewährte, was aber ohne Einwilligung des Kantons keine Gültigkeit besass. In der Folge wurde Grenchen unter seinem französischen Namen Granges zu einem «europäischen Wort», wie es Munzinger an einer Grossratssitzung ausdrückte. Dabei verglich er das radikale Städtchen, das die Konservativen ärgerte und das er heimlich bewunderte, mit der Pionierrolle «Bethlehems in Israel». Aufgrund des Fremdenkonklusums vom August 1836 wurde es für Grenchen und die Kantonsregierung aber immer schwieriger, das Versteckspiel weiterzutreiben oder zu dulden. Am 2. Januar 1837 verliessen die italienischen Flüchtlinge unter grosser Anteilnahme der freisinnigen Männer und Frauen die Eidgenossenschaft Richtung London.
Aber die Asylkonflikte mit den reaktionären europäischen Staaten gingen weiter. Im Solothurner Grossrat wurden sie jeweils Gegenstand der Debatte, wenn es um die Instruktion der Tagsatzungsabgeordneten ging. Am eifrigsten wurden die Interessen der ausländischen Mächte von dem zum Katholizismus konvertierten Berner Patrizier Karl Ludwig von Haller, Autor des Kultbuchs «Restauration der Staatswissenschaft», vertreten. Die Radikalen, die in der Regel die Mehrheit gewannen, verteidigten die nationale Souveränität und damit das Asylrecht, und die Liberalen schwankten zwischen beiden Polen.
Solothurn bestätigt die These von Ursula Meyerhofers Dissertation «Von Vaterland, Bürgerrepublik und Nation», dass die tiefe Spaltung der Eidgenossenschaft, welche 1847 zum Bürgerkrieg führte, bereits die vorausgegangenen Asyldebatten geprägt hatte: «Die Radikalen wollten politisch Farbe bekennen und sich nicht den monarchischen ‹Einmischern› unterwerfen. Die Liberalen warben für Mässigung, und die Konservativen begannen eine Kampagne, die unter dem Namen von Niklaus von der Flüe gegen die in der Schweiz lebenden Ausländer vorging. An diesem Punkt begann die radikale politische Entzweiung zwischen den Parteien.» Der Troxler-Schüler und Hauptprotagonist der 1840er-Jahre, der Aargauer Kulturkämpfer Augustin Keller, nannte in seinem ersten nationalen Auftritt 1837 die Auseinandersetzungen und die Asylfrage einen «Flüchtlingskrieg».
Kaum war der Bundesstaat im September 1848 gegründet, stand wieder die Asylfrage im Fokus. So hielten sich 1848 allein in den beiden Kantonen Tessin und Graubünden 20'000 Flüchtlinge aus Italien auf. Ein Jahr später wuchs die Zahl der deutschen Flüchtlinge in der Nordwestschweiz schlagartig auf 11'000. Der Bundesrat, eingeschlossen Druey und Munzinger, lavierte zwischen dem Druck der siegreichen Reaktion in den Nachbarländern und dem aus der eigenen Basis. Diese verknüpfte weiterhin die Frage des Asylrechts mit der nationalen Souveränität. Und so blieb es bei der freisinnigen Mehrheit der Bevölkerung und im Grossen und Ganzen bei den Behörden bis zum Ersten Weltkrieg. Als der Bundesrat 1888 unter dem Druck Bismarcks die in die Schweiz geflohenen Redaktoren der SPD-Zeitung «Sozialdemokrat» ausweisen liess, hagelte es Proteste aus linken und liberalen Kreisen.
Josef Lang Der Historiker und freie Autor, Jahrgang 1954, war von 2003 bis 2011 Nationalrat der Grünen. |
Josef Lang
Der Historiker und freie Autor, Jahrgang 1954, war von 2003 bis 2011 Nationalrat der Grünen.
Die Wende kam um das Jahr 1920 herum mit der Bildung des rechten Bürgerblocks, den mit dem konservativen Sonderbund mehr verband als mit den fortschrittlichen 1848ern. Fortan definierte sich die Schweiz nicht mehr über eine offene Asylpolitik, sondern über Fremdenabwehr. Ein konservativer Nationalismus löste den durch die Aufklärung geprägten Liberalismus als Leitkultur ab. Gegen die Boot-ist-voll-Doktrin, die 1942 bis 1945 Tausenden von jüdischen Flüchtlingen das Leben kostete, gab es zwar mutige Proteste. Aber sie erreichten bei weitem nicht das Ausmass der Volksversammlungen von 1836.
Josef Lang Der Historiker und freie Autor, Jahrgang 1954, war von 2003 bis 2011 Nationalrat der Grünen. |
Wenn die SVP in ihrer Wahlwerbung «Souveränität und Identität» postuliert, hat das mit den Grundwerten jener Generation, der wir die Schaffung des Bundesstaates verdanken, herzlich wenig zu tun. Die Flawilisierer schützten die Flüchtlinge, obwohl eine offene Haltung dem Land und den Kantonen viel Ungemach bereitete. Und sie verteidigten das Recht auf Asyl, obwohl es damals noch kein Menschenrecht, sondern ausschliesslich ein Recht des Staates war. Die rechtliche Grundlage ihres Engagements war viel prekärer, als sie heute ist. Umso eindrücklicher sind ihre Massenaktionen und ihre Erfolge.
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