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Vierspuriger Betrieb ohne Verfassungsänderung

Das Parlament könne mit einer Gesetzesänderung neue Tatsachen am Gotthard schaffen, sagt Staatsrechtler Alain Griffel. Doris Leuthard informiere missverständlich.

Stefan Häne

Es ist der zen­tra­le Streit­punkt im Ab­stim­mungs­kampf: Führt der Bau einer zwei­ten Gott­hard­röh­re fak­tisch zu einer Ka­pa­zi­täts­er­wei­te­rung? Das Uvek, das De­par­te­ment von Ver­kehrs­mi­ni­ste­rin Do­ris Leut­hard (CVP), be­strei­tet dies ve­he­ment: Auch wenn zwei Tun­nels ge­baut sei­en, ste­he wei­ter­hin nur je eine Fahr­spur pro Rich­tung zur Ver­fü­gung; die­ser Grund­satz wer­de ins Ge­setz ge­schrie­ben, der Al­pen­schutz­ar­ti­kel in der Ver­fas­sung blei­be ge­wahrt. Vor zwei Jah­ren hat Leut­hard die Stän­de­rä­te ge­mäss amt­li­chem Bul­le­tin wis­sen las­sen: «Wer mehr will, wer einen Voll­aus­bau will, wer die ge­sam­ten vor­han­de­nen Flä­chen nut­zen will, der muss die Bun­des­ver­fas­sung än­dern.»

Die­se Aus­sa­ge gibt zu re­den. Alain Grif­fel, Staats­recht­ler an der Uni­ver­si­tät Zü­rich, hält sie zwar nicht für falsch, aber für «hoch­gra­dig miss­ver­ständ­lich». Grif­fel ist über­zeugt, dass sie auch falsch ver­stan­den wur­de, näm­lich wie folgt: Eine Ver­fas­sungs­än­de­rung be­deu­te eine ob­li­ga­to­ri­sche Ab­stim­mung von Volk und Stän­den, al­so sei ein Be­trieb mit vier Spu­ren oh­ne vor­gän­gi­ge Volks­ab­stim­mung recht­lich nicht mög­lich.

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Das Parlament reicht

Kor­rekt for­mu­liert müss­te es laut Grif­fel je­doch heis­sen: «Die Ver­fas­sung müss­te ge­än­dert wer­den.» Aber es ge­he recht­lich auch oh­ne, sagt der Ex­per­te. Sei­ne Über­le­gung: Bun­des­ge­set­ze sind in der Schweiz laut Ver­fas­sung «mass­ge­bend», sie sind so­mit auch dann an­zu­wen­den, wenn sie ge­gen die an sich hö­her­ran­gi­ge Ver­fas­sung ver­stos­sen — auch vom Bun­des­ge­richt. Die ge­plan­te Ge­set­zes­än­de­rung, die den zwei­spu­ri­gen Be­trieb ver­an­kert, wird laut Grif­fel so­mit zum Steig­bü­gel für den spä­te­ren zwei­ten Schritt: Nach der Er­öff­nung der zwei­ten Tun­nel­röh­re kann je­des Par­la­ments­mit­glied eine par­la­men­ta­ri­sche Ini­tia­ti­ve zur Än­de­rung oder Er­gän­zung des Ge­set­zes ein­rei­chen — mit dem Ziel, al­le vier Spu­ren zu öff­nen. In der Fol­ge müss­ten nur noch der Na­tio­nal- und der Stän­de­rat der Än­de­rung zu­stim­men. «Die­se wür­de dann gel­ten, Al­pen­schutz­ar­ti­kel hin oder her», sagt Grif­fel. Für ihn ist klar: «Die­se For­de­rung wird kom­men, spä­tes­tens nach dem zwei­ten Oster­stau.» Un­klar ist, ob Leut­hard 2014 aus tak­ti­schen Grün­den von «muss» statt von «müss­te» ge­spro­chen hat. Das Uvek geht auf An­fra­ge des TA nicht di­rekt dar­auf ein. Statt­des­sen weist es dar­auf hin, Grif­fels Kri­tik sei ihm be­kannt und ent­hal­te kei­ne neu­en Über­le­gun­gen. Die Be­völ­ke­rung, so ar­gu­men­tiert das Uvek, wä­re im ge­schil­der­ten Fall nicht macht­los, son­dern könn­te ge­gen die be­schrie­be­ne Ge­set­zes­än­de­rung auf po­li­ti­schem Weg vor­ge­hen — via Re­fe­ren­dum.

Griffel fragt je­doch rhe­to­risch: «Wie wä­ren wohl die Er­folgs­aus­sich­ten in einer Ab­stim­mung, wenn die bei­den Tun­nel mit ins­ge­samt vier Spu­ren ge­baut sind?» Grif­fel zwei­felt gar da­ran, dass in einem sol­chen Fall über­haupt je­mand das Re­fe­ren­dum er­grei­fen wür­de. Einig geht das Uvek mit Grif­fel im Punkt, wo­nach die Bun­des­ver­fas­sung das Bun­des­ge­richt da­zu zwingt, Bun­des­ge­set­ze im Ein­zel­fall an­zu­wen­den. Sie ver­bie­te den Rich­tern in Lau­san­ne aber nicht, eine Über­prü­fung der Ge­set­ze auf ih­re Ver­ein­bar­keit mit der Ver­fas­sung vor­zu­neh­men und so eine all­fäl­li­ge Ver­fas­sungs­wid­rig­keit fest­zu­stel­len, gibt das Ver­kehrs­de­par­te­ment zu be­den­ken. Grif­fel be­strei­tet dies nicht. Al­ler­dings müs­se das Bun­des­ge­richt ein Ge­setz eben auch ge­nau dann an­wen­den, wenn es sei­ne Ver­fas­sungs­wid­rig­keit fest­ge­stellt ha­be, sagt er. Eine Aus­nah­me hat sich in der Pra­xis laut Grif­fel nur her­aus­ge­bil­det, wenn ein Bun­des­ge­setz ge­gen die Euro­päi­sche Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on ver­stos­se. Doch dies sei hier nicht der Fall.

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Zweite Gotthardröhre spaltet die Führungsriege der SBB

Der Ver­wal­tung­srat der SBB hält einen zwei­ten Tun­nel für «ver­tret­bar».
VR-Mit­glied And­rea Häm­mer­le warnt in­des vor dem Pro­jekt.

Stefan Häne

Es war der Auf­ruf, Klar­text zu spre­chen. Gior­gio Tu­ti, Prä­si­dent der Ge­werk­schaft des Ver­kehrs­per­so­nals (SEV), hat­te die Füh­rung­screw der SBB An­fang Ja­nu­ar auf­ge­for­dert, sich im Hin­blick auf den 28. Feb­ru­ar klar zu po­si­tio­nie­ren. «Die SBB wür­den von der Ver­la­ge­rungs­lö­sung oh­ne zwei­ten Stras­sen­tun­nel pro­fi­tie­ren, und das sol­len sie auch sa­gen.»

Die SBB-Spit­ze äus­sert sich nun — aber nicht im Sin­ne Tu­tis. Die SBB hal­ten eine zwei­te Röh­re für «ver­tret­bar», so­fern da­mit nicht die Ka­pa­zi­tät für den Stras­sen­ver­kehr er­höht wird, schreibt Ver­wal­tungs­rats­prä­si­dent Ul­rich Gy­gi auf An­fra­ge. Er wie­der­holt da­mit im Kern die Aus­sa­ge einer SBB-Spre­che­rin, die der «Sonn­tags­Blick» am 3. Ja­nu­ar un­ter dem Ti­tel «SBB für zwei­te Gott­hard­röh­re» pub­li­ziert und da­mit eini­gen Wir­bel aus­ge­löst hat­te. Die SBB als Ab­stim­mungs­käm­pfe­rin? So woll­ten sich die Bun­des­bah­nen nicht ti­tu­liert se­hen: Man be­ur­tei­le die Vor­la­ge nur aus ope­ra­ti­ver Sicht. Wel­che Vor­tei­le ein zwei­ter Stras­sen­tun­nel für sie hät­te, er­läu­ter­ten die SBB in­des nicht. Auch Gy­gi tut dies nicht.

In Bahn­krei­sen ist man sich ziem­lich einig: Die SBB tun sich mit ih­rer Hal­tung schwer, weil die Un­ter­neh­mens- und Eigen­tü­mer­in­ter­es­sen in der Gott­hard­fra­ge di­ver­gie­ren. So ge­hö­ren die SBB dem Bund - und die­ser spricht sich in der Ge­stalt von Bun­des­rat und Par­la­ment für die zwei­te Röh­re aus. Der Ver­ein Al­pen­ini­tia­ti­ve mut­masst gar, Do­ris Leut­hard (CVP) ha­be den SBB den Po­si­ti­ons­be­zug auf­ge­zwun­gen — was ihr De­par­te­ment, das Uvek, be­strei­tet.

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Tat­sa­che ist: Der SBB-Ver­wal­tungs­rat ist ge­spal­ten. Mit­glied And­rea Häm­mer­le vo­tiert ge­gen eine zwei­te Röh­re, wie er auf An­fra­ge sagt. Der Alt-SP-Na­tio­nal­rat be­tont, er äus­se­re sich als lang­jäh­ri­ger Al­pen­schüt­zer und frei­er Bür­ger. «Das Pro­jekt er­wei­tert die Tran­sit­stras­sen­ka­pa­zi­tät und wi­der­spricht da­mit dem Al­pen­schutz­ar­ti­kel in der Ver­fas­sung», sagt er in ma­xi­ma­lem Kon­trast zur bun­des­rät­li­chen Ein­schät­zung. Soll­ten der­einst — ent­ge­gen der Zu­si­che­rung der Lan­des­re­gie­rung — vier Spu­ren in Be­trieb ge­hen, hät­te dies laut Häm­mer­le «selbst­re­dend ne­ga­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf das SBB-Ge­schäft», sprich: die SBB-An­ge­bo­te im Per­so­nen- und Gü­ter­ver­kehr. Bei nur zwei ge­öff­ne­ten Spu­ren wä­ren die Fol­gen «we­ni­ger gra­vie­rend». Prä­zi­ser wird Häm­mer­le nicht; statt­des­sen fragt er: «Wie lan­ge blei­ben vor­han­de­ne Spu­ren un­ge­nutzt?» Zur Hal­tung des Ver­wal­tungs­rats äus­sert sich Häm­mer­le nicht. Er kri­ti­siert das neun­kö­pfi­ge Gre­mi­um nicht - er ver­tei­digt es aber auch nicht.

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Leitartikel — Für den Bau einer zweiten Gotthardröhre gibt es zu wenig Argumente. Das gilt jedenfalls dann, wenn man am Alpenschutz festhalten will — und wenn man für die eigene Region Geld benötigt.

20 Jahre Verkehrspolitik sind gefährdet

Nordportal
Ein Auto fährt am Nordportal in Göschenen in den Gotthard­strassen­tunnel der Auto­bahn A2 Foto: Urs Jaudas ein.
Von Fabian Renz, Bern

Logik geht so: Zu­erst ist da ein Prob­lem, dann fin­det man die Mit­tel, um es zu lö­sen. Es muss einen stut­zig ma­chen, wenn die­se Kau­sal­ket­te auf ein­mal um­ge­dreht wird.

Seit den 90er Jah­ren ar­bei­ten das Trans­port­ge­wer­be und sein po­li­ti­scher An­hang auf einen zwei­ten Stras­sen­tun­nel am Gott­hard hin. Im Jahr 2004 sag­te das Volk bei der Avan­ti-Ab­stim­mung ein er­stes Mal Nein, am kom­men­den 28. Feb­ru­ar stim­men wir er­neut dar­über ab. Der Wunsch­traum ist der­sel­be ge­blie­ben, ge­wech­selt hat die Be­grün­dung. Vor zwölf Jah­ren noch woll­te man pri­mär ein Na­del­öhr auf der Nord-Süd-Ach­se be­sei­ti­gen. Jetzt soll die zwei­te Röh­re ein «Sa­nie­rungs­tun­nel» sein, der den Ver­kehrs­fluss ge­währ­lei­stet, wenn der al­te, be­ste­hen­de Tun­nel re­no­viert wird.

Doch es geht im­mer noch um das glei­che Bau­werk, und so ha­ben auch die Ar­gu­men­te da­ge­gen nach wie vor Gül­tig­keit. Ein Ver­gleich lohnt sich. Schon bei Avan­ti be­teu­er­ten die Be­für­wor­ter, man hal­te am Ziel fest, den Schwer­ver­kehr auf die Schie­ne zu ver­la­gern. Nur wenn der Al­pen­schutz­auf­trag er­füllt wer­de, sei der Bau der zwei­ten Röh­re er­laubt, hiess es da­mals. Bei der ak­tu­el­len Neu­auf­la­ge wur­de nun ein Ge­set­zes­ar­ti­kel kon­stru­iert, der nach der Sa­nie­rung nur eine Fahr­spur pro Tun­nel of­fen lies­se. Die Stras­sen­ka­pa­zi­tät neh­me al­so nicht zu, wird dies­mal ar­gu­men­tiert. Ge­mein­sam ist bei­den Ar­gu­men­ta­tio­nen, dass die ver­kehrs- und um­welt­po­li­ti­sche Ge­fähr­lich­keit eines gi­gan­ti­schen Bau­vor­ha­bens mit einem Pa­ra­gra­fen auf Pa­pier ent­schärft wer­den soll. Bei Avan­ti war im­mer­hin noch eine Ver­fas­sungs­re­gel ge­plant. Dies­mal soll schon die Ge­set­zes­stu­fe aus­rei­chen.

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Wenn alles an einem Satz hängt

Und das ist das Haupt­prob­lem die­ser «Sa­nie­rungs­vor­la­ge», wie sie von den Be­hör­den ver­we­delnd ge­nannt wird: Wenn man den Al­pen­schutz­ar­ti­kel in der Ver­fas­sung be­für­wor­tet, gibt es für die zwei­te Röh­re schlicht zu we­nig Grün­de. Na­tür­lich, die Si­cher­heit für die Auto­fah­rer stie­ge ein biss­chen. Aber recht­fer­tigt dies die Ge­fähr­dung von 20 Jah­ren Ver­kehrs­po­li­tik? Zahl­los und stark sind die Kräf­te, die sich (heim­lich) vier Spu­ren am Gott­hard wün­schen, in der Schweiz und in der EU. Man geht kein Ri­si­ko ein mit der Prog­no­se, dass die­se Kräf­te nach dem Bau der zwei­ten Röh­re ak­tiv wer­den. Ein Sätz­chen im Ge­setz um­zu­schrei­ben: Das muss ih­nen ge­lin­gen, dann sind sie am Ziel.

Es gibt zu we­nig gu­te Grün­de für ein Ja: Seit No­vem­ber gilt die­ser Be­fund noch ver­stärkt. Seit dann ken­nen wir näm­lich den Be­richt des zu­stän­di­gen Bun­des­amts, wo­nach der Gott­hard­tun­nel in bes­se­rem Zu­stand ist als bis da­to ver­mit­telt. Wa­rum sich al­so nicht die Zeit neh­men, eine klug etap­pier­te Sa­nie­rung zu pla­nen, die mög­lichst oh­ne Voll­sper­re aus­kommt (und da­mit oh­ne Iso­la­ti­on des Le­ven­ti­na­tals)?

Zu wenig gu­te Grün­de für ein Ja hat auch, wer für sei­ne eige­ne ver­kehrs­ge­plag­te Re­gi­on auf Geld vom Bund hofft. Mit zwei Mil­li­ar­den Fran­ken wür­de die zwei­te Gott­hard­röh­re zu Bu­che schla­gen — eine un­ge­heu­re Sum­me für ein «Sa­nie­rungs­pro­jekt», wo­bei nach der Fer­tig­stel­lung noch Un­ter­halts­kos­ten von jähr­lich 30 Mil­lio­nen hin­zu­kom­men.

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Bleibt das Volk auf Kurs?

Während der Bun­des­rat lau­fend alar­mi­sti­scher vor na­hen­den De­fi­zi­ten in der Staats­kas­se warnt, soll am Gott­hard Klot­zen statt Klec­kern an­ge­sagt sein. Zwar gibt es auch die Al­ter­na­ti­ven nicht um­sonst. Doch Ver­la­de­sta­tio­nen für den Auto- und LKW-Trans­port un­ter dem Berg hin­durch sind im­mer­hin wohl eine Mil­li­ar­de Fran­ken gün­sti­ger. Der Dif­fe­renz­be­trag wird für Ver­kehrs­pro­jek­te im Mit­tel­land ent­we­der zur Ver­fü­gung ste­hen oder eben nicht.

Diese Ar­gu­men­te leuch­ten auch der Be­völ­ke­rung ein, wenn man den Um­fra­gen glau­ben darf. Vor al­lem rech­net dem­nach eine Mehr­heit fest da­mit, dass bei einem Ja nach der Sa­nie­rung al­le vier Spu­ren frei­ge­ge­ben wür­den. Um­so ver­stö­ren­der ist, dass der Vor­la­ge der­zeit trotz­dem eine kom­for­tab­le Mehr­heit vor­aus­ge­sagt wird. Die Leu­te glau­ben den Geg­nern und stim­men mit den Be­für­wor­tern: In die­ser Kom­bi­na­ti­on könn­te das nur heis­sen, dass der Al­pen­schutz das Volk mit­tler­wei­le kühl lässt. Soll­te die Ver­la­ge­rungs­po­li­tik po­li­tisch nicht mehr ab­ge­stützt sein, kommt ir­gend­wann die Zeit, sich von ihr of­fi­zi­ell zu ver­ab­schie­den. So ge­se­hen ist das Ple­bis­zit zu be­grüs­sen, weil es et­was Klar­heit bringt. Auch wenn bei einem Ja die Fest­ge­mein­de, die im Som­mer zur Eröff­nung des Neat-Bahn­tun­nels ge­la­den ist, ir­gend­wie lä­cher­lich wir­ken wird.

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