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Bern — Wenn das Stimmvolk am 28. Februar die Gotthard-Vorlage ablehnt, ist der Bau einer zweiten Röhre für den Strassentunnel vom Tisch. In diesem Falle müsste am Gotthard vorübergehend wieder ein Bahnverlad für Autos eingerichtet werden, damit die Sanierung des alten Strassentunnels vollzogen werden kann.
Personenwagen würden durch den alten Eisenbahntunnel transportiert. Dort gab es bis 1980 bereits einen Autoverlad. Sein Ende kam, als der — inzwischen sanierungsbedürftige — Strassentunnel eröffnet wurde.
Der Bundesrat favorisierte einst den Bahnverlad als Übergangslösung, schwenkte dann aber auf den Bau einer zweiten Röhre um. Gegen diese sprechen sich nun ehemalige Planer und Ingenieure der SBB aus. Beispielsweise Hans-Peter Vetsch, der während zweier Jahrzehnte infrastrukturplaner bei den SBB war. Er sieht die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene in Gefahr. Ausserdem richte sich die zweite Röhre gegen das 24 Milliarden teure Neat-Projekt.
Für Vetsch bildet die Sanierung der Gotthardröhre vielmehr die Möglichkeit, den internationalen Güterverkehr durch die Alpen endlich auf die Schiene zu bringen. Die Kapazitäten seien vorhanden, ist er überzeugt. red.
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Ehemalige Planer und Ingenieure der SBB bekämpfen die zweite Röhre für den Gotthard-Strassentunnel. Sie plädieren stattdessen für einen temporären Bahnverlad. Vor allem wollen sie den Güterverkehr von Basel nach Chiasso ganz auf die Schiene bringen.
Die Überraschung war perfekt: Anfang Jahr ging die Meldung durch die Schweiz, die SBB-Führung unterstütze die Vorlage für den Bau einer zweiten Röhre für den Gotthard-Strassentunnel, die am 28. Februar an die Urne kommt (siehe Kasten). Noch heute kann Hans-Peter Vetsch darüber nur den Kopf schütteln. Vetsch hat über zwanzig Jahre SBB-Erfahrung als Infrastrukturplaner, zuletzt im neuen Gotthard-Basistunnel (GBT) als Leiter Sicherheit und Betrieb.
Hans-Peter Vetsch ist bestürzt. Aus seiner Sicht würde die Schweiz mit dem zweiten Strassentunnel die Verlagerungspolitik und die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (Neat) torpedieren, die insgesamt 24 Milliarden Franken kostet. Für Vetsch wäre die anstehende Sanierung des Strassentunnels stattdessen die ideale Chance, um den internationalen alpenquerenden Güterverkehrdefinitiv auf die Schiene zu bringen.
Er nennt in diesem Zusammenhang die 100 Millionen Franken, die der Bund für Verladeterminals einer Rollenden Landstrasse (Rola) in Basel und Chiasso 1996 bereitgestellt hatte. Die Verladekapazitäten samt Gleisen — über die heute Gras wächst — stünden dazu in Basel beim Badischen Bahnhof bereit, mit Anschluss an die Autobahn. In Chiasso gebe es genügend Gleise im Rangierbahnhof, nötig sei einzig eine kurze Anschlussstrasse zur Autobahn.
Kurz: «Die Kapazitäten sind vorhanden, damit der alpenquerende Grenzverkehr der Güter ohne Zollabfertigung schnell über die Bahn erfolgen könnte.» Davon ist Vetsch überzeugt. Mit dem Gotthard-Basistunnel und dem Ceneritunnel steige die Kapazität im alpenquerenden Güterverkehr inklusive Lötschbergachse ab 2020 von 250 auf 370 Züge pro Tag. So könne man ohne weiteres die 519'000 ausländischen Lastwagen, die gut zwei Drittel des LKW-Aufkommens am Gotthard ausmachten, auf die Schiene bringen.
Auch das Verkehrsdepartement hatte in seinen früheren Abklärungen 2010 die optimalen Bedingungen für eine lange Rola in Basel und Chiasso hervorgehoben. Grosses Hindernis war damals noch die Ungewissheit, ob die Rola auch Sattelauflieger mit vier Metern Eckhöhe zum Gotthard transportieren kann. Heute ist aber klar, dass der sogenannte 4-Meter-Korridor termingerecht verwirklicht wird.
Oskar Stalder, Ingenieur und ebenfalls ehemaliger SBB-Infrastrukturplaner, äussert sich auf Nachfrage vor allem erstaunt darüber, dass die heutige Verkehrsministerin Doris Leuthard (CVP) den zweiten Strassentunnel an Podien mit veralteten Zahlen der Studie von 2010 verteidige. Aus seiner Sicht übertreibt sie vor allem beim Platzbedarf, den die temporären Verladeanlagen in Erstfeld und Biasca hätten, die den Strassenverkehr während der Tunnelsanierung aufnehmen müssten.
«Die Kapazitäten sind vorhanden,
damit der alpenquerende Grenzverkehr
der Güter ohne Zollabfertigung schnell
über die Bahn erfolgen könnte.»
Hans-Peter Vetsch
Stalder ist überzeugt: «Es wird weniger als die Hälfte des Platzes benötigt.» Er und fünf weitere ehemalige Fachkollegen haben dazu ein alternatives Verladekonzept entwickelt. Kernpunkte sind ein effizienteres Verlademanagement, die Nutzung der tatsächlichen Kapazität des GBT sowie die Möglichkeiten des 4-Meter-Korridors mit dem Verlad der Lastwagen von Basel bis Chiasso. Das Konzept der ehemaligen SBB-Ingenieure enthält folgende Schwerpunkte:
• Ein Autoverlad zwischen Göschenen und Airolo könnte in beide Richtungen achthundert Personenwagen pro Stunde transportieren. Pro Jahr könnten so 5,2 Millionen Fahrzeuge pro Richtung verladen werden.
• Zwischen Erstfeld und Biasca gäbe es einen Lastwagenverlad durch den neuen Basistunnel, der je zwei Züge pro Stunde und Richtung umfassen soll, die je 30 LKW transportieren. Das ergäbe eine Tageskapazität von insgesamt 2280 LKW.
• Der Lastwagenverlad Basel–Chiasso soll 30 LKW pro Zug umfassen. Mit einem Zug pro Stunde und Richtung ergäbe das eine Tageskapazität von 1020 LKW.
Auf Anfrage nahm das Verkehrsdepartement zum Konzept der ehemaligen SBB-Ingenieure Stellung. Neben Übereinstimmungen geht es von einer um zweihundert Personenwagen geringeren Kapazität pro Stunde aus. Beim Lastwagenverlad wiederum hält das Departement an der Studie von 2010 grundsätzlich fest und ignoriert die Möglichkeiten des 4-Meter-Korridors, das heisst: die Chance, die eine Rola zwischen Basel und Chiasso bietet. Begründung: Ein definitiver Entscheid werde erst bis 2019 gefällt, womit eine Inbetriebnahme nicht vor 2022 möglich sei. Der Bundesrat hat noch im Dezember 2015 diesen Entscheid auf 2019 verschoben, obschon seit 2014 feststeht, dass der 4-Meter-Korridor bis 2020 erstellt sein wird.
Dass dieser Korridor, der immerhin 990 Millionen Franken kostet, nicht in den Überlegungen des Bundes Eingang fand, will Hans-Peter Vetsch nicht in den Kopf. Denn der Korridor ermögliche es, den ganzen Lastwagenverkehr von Grenze zu Grenze über die Gotthard- und Lötschbergachse auf die Schiene zu bringen. Vetsch weiss, wovon er spricht: Er ist heute als Bahnberater in verschiedenen Ländern tätig, so für die Bundesbahnen in Deutschland und Österreich sowie für ein Güterbahnprojekt in Australien.
Christian Bernhart
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SANIERUNGSPHASE
Die Frage treibt Politiker und Planer seit langem um: Wie wird die Sanierung des Gotthard-Strassentunnels organisiert? Anfänglich stand für den Bundesrat eine Lösung mit einem temporären Bahnverlad für Autos und Lastwagen im Vordergrund, der nach der Sanierung wieder abgebaut würde. Später gaben Bundesrat und Parlament aber dem Bau einer zweiten Röhre den Vorzug. Im laufenden Abstimmungskampf flammt die Debatte neu auf. Vor allem legen Bahnexperten neue Konzepte für Verladelösungen vor (siehe Hauptartikel).
ABSTIMMUNG |
28. Februar 2016 |
Aus der Bahnwelt sind aber auch skeptische Stimmen zu vernehmen. Die SBB sind wenig erpicht, für den Bahnverlad Einschränkungen im neuen Neat-Basistunnel in Kauf zu nehmen. Und der frühere Direktor der BLS, Mathias Tromp, schrieb in einem Beitrag in der NZZ, die Bahn könne die Strasse am Gotthard nicht befriedigend ersetzen.
Das hinderte die BLS aber nicht daran, sich bereits jetzt beim Bund als Betreiberin eines allfälligen Bahnverlads am Gotthard zu bewerben, wie die Zeitung «Der Bund» meldet. Das wäre eine Option, falls die Gotthard-Vorlage am 28. Februar abgelehnt wird. In diesem Fall wird die Tunnelsanierung laut dem Bundesrat ohne zweite Röhre erfolgen. Während der Sperrung würde je ein Verlad für Personenwagen und Lastwagen auf die Beine gestellt.
Die Lastwagen würden durch den neuen Basistunnel transportiert. Für Personenwagen hingegen will der Bund wieder einen Verlad durch den alten Bahntunnel Göschenen–Airolo einrichten. Einen solchen gab es schon früher, bis 1980 der heutige Strassentunnel eröffnet worden ist. 2001, nach dem schweren Brandunfall mit elf Toten im Strassentunnel, wurde dieser Verlad für ein paar Wochen wieder aufgenommen.
Der Bundesrat hält heute nicht mehr viel von seinem früheren Plan. Er warnt vor dem hohen Landbedarf für die temporären Verladeanlagen und befürchtet den Widerstand betroffener Kantone und Landeigentümer. Zudem werde ein Teil des Lastwagenverkehrs auf andere Routen ausweichen.
fab
Stand: 31. Januar 2016 | © Zürcher Unterländer |