Illustration: Michael Pleesz
Illustration: Michael Pleesz
Die Schlüsselfiguren (v.l.): Staatsanwältin Boillat, Hervé Falciani, Bundesrat Merz und Georgina Mikhael.
Wie der französische Datendieb die Schweizer Behörden düpierte ➔ Fokus:
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Ein Auftritt nach seinem Geschmack: Hervé Falciani, begleitet von Personenschützern, im Juli 2013 in Paris.
Foto: Corentin Fohlen/NYT/Redux/laif
Es sind nicht nur fünf DVDs, die Hervé Falciani in diesem Moment aus seiner Tasche zieht. Hier, in einem Bistro am Flughafen Nizza Côte d’Azur, am 26. Dezember 2008, hält der 36-jährige Franzose die geheimen Schweizer Bankdaten von über 100'000 Menschen in den Händen. Konten im Umfang von 100 Milliarden Euro.
Die Scheiben enthalten Spuren der Financiers von Bin Laden. Sie entschlüsseln die Geschäfte der Drogendealer in Panama, enthüllen die Wege der Blutdiamanten nach Antwerpen, sie beweisen, dass Tausende Manager, Models, Politiker und Adelige weltweit systematisch ihre Steuern hinterzogen. Die eingebrannten Daten sind fast eine Milliarde Franken wert. So viel zusätzliche Steuereinnahmen konnten Regierungen von sieben Ländern bis heute aus ihnen gewinnen. Um zehn Uhr morgens übergibt Falciani die DVDs dem französischen Steuerfahnder Jean-Patrick Martini. Er stürzt die Schweiz damit in eine diplomatische Krise, bringt den Bundesrat in Erklärungsnot und beschert dem Finanzplatz Schweiz einen historischen Imageschaden. Und er düpiert die Schweizer Ermittler, denen er mit List und Charme entwischte, und die mit ihren Gegenmassnahmen — ohne es zu wollen — den grössten BankdatenSkandal aller Zeiten überhaupt erst möglich machten.
Der Hauptdarsteller dieses Krimis: Hervé Daniel Falciani, geboren 1972 in Monaco. Ein Filou und Gambler. Ein Womanizer, Geschäftemacher und patentierter Pokerspieler. Ein Datendieb, gejagt von Interpol, ein Whistleblower und ein Albtraum für die Finanzeliten der Welt. Ein Mann, der jeden Romanhelden in den Schatten stellt. Mit 22 arbeitet der junge Hervé als Croupier in den Spielbanken von Monaco, im gleichen Alter stellt ihn die Verwaltungsgesellschaft des Casinos von Monte Carlo bereits als Sicherheitsspezialisten an. Mit 28 wechselte er 300 Meter weiter zur Monaco-Filiale der Hongkong & Shanghai Banking Corporation Holdings, kurz HSBC. Er ist klug, gewitzt, geschmeidig, beliebt. Das Internet wird gerade zum Massenmedium. Der junge Hervé reitet gekonnt auf der Welle. Die Genfer Zentrale der HSBC hört von dem fähigen jungen Mann und holt ihn 2004 nach Genf.
Falciani hat zu der Zeit bereits eine Scheidung hinter sich. In Genf lebt er mit seiner neuen, sieben Jahre jüngeren Freundin Simona C. in einer bescheidenen Vierzimmerwohnung an der Rue des Mouettes 9 in Genf. Miete: 1820 Franken.
Ende 2005 bekommen die beiden eine Tochter, Kim. Sie ist behindert, Simona kümmert sich rund um die Uhr um das Mädchen. Falciani ist derweil viel weg — wie die Nachbarn bemerken. Und das liegt nicht nur an seiner Arbeit.
Im Fall Falciani haben Ermittler aus der Schweiz und Frankreich bis heute fast 23'000 Seiten Untersuchungsberichte und Einvernahmeprotokolle angehäuft. Die SonntagsZeitung konnte den grössten Teil dieser Dokumente sichten und damit die Geschichte des Datendiebstahles in der HSBC rekonstruieren. Journalisten weltweit veröffentlichen seit einer Woche Recherchen aufgrund von Falcianis Daten.
Im Herbst 2006 lernt er die 31-jährige Georgina Mikhael aus der IT-Abteilung der HSBC kennen. Die attraktive Libanesin arbeitet erst seit September in der Bank. Ab November ist sie bereits Hervés Geliebte. «Ich habe ihn einfach bewundert», sagt Georgina später in «Le Monde». «Es war seine Intelligenz, die mich anzog.»
Falciani erzählt der verliebten Libanesin eine fantastische Geschichte: Er habe eine geheime Datenbank mit wertvollen Kundeninformationen. Gemeinsam könnte man die doch verkaufen und ein neues Leben beginnen. Was genau das für Daten sind, verschweigt er.
Seit dem Oktober 2006 stiehlt Falciani Kundendossiers der HSBC, und das gleich zu Zehntausenden. Noch drei Jahre später ist es Ermittlern ein Rätsel, wie er dies schaffte, denn er hatte als Entwickler gar keinen Zugriff auf Kundendaten.
Vom 10.März bis zum 4.August 2009 vernahm die Bundeskriminalpolizei BKP elf Manager und Techniker der HSBC, darunter die Chefs der IT- und der Rechtsabteilung, sowie Falcianis Kollegen. Fazit: Der Informatiker war teils alleine zuständig dafür, die Kundendaten der Bank in ein neues IT-System zu überführen. «Er hat die neue Datenbank alleine konstruiert», bestätigt HSBC-Projektleiter Florent D. bei seiner Vernehmung.
Bei diesen Transfers waren die Daten zwar immer noch verschlüsselt, doch die Ermittlungen zeigten, dass die Codierung manchmal aussetzte. Dann «ist es auch für einen Entwickler wie Falciani möglich, alle Daten unverschlüsselt herunterzuladen, zum Beispiel in der Form von Excel-Tabellen, und sie danach auf einem beliebigen Datenträger zu speichern», so das Fazit im Abschlussbericht der Ermittler.
Es ist nicht restlos geklärt, warum Falciani die Daten kopierte. Klar ist nur, dass er finanziell unter Druck stand und unzufrieden war mit seinem Gehalt.
Ab Oktober 2006 beginnt die HSBC an den Wochenenden mit den Transfers der Kundendaten. Hervé Falciani sitzt an langen Sonntagen Stunden alleine vor seinem Terminal in den Büroräumen an der Noirettes 35 in Genf. Er ist in diesem Moment der Albtraum jedes Sicherheitsverantwortlichen einer Bank: technisch brillant, mit Insiderwissen, beruflich frustriert, finanziell am Anschlag, persönlich instabil — ein Abenteurer mit Drang zu Höherem. Was tut so einer, wenn die Verschlüsselung zusammenbricht? Er fängt an zu kopieren.
«Wir müssen aufpassen, Baby»
Was führte Falciani damals im Schilde mit seiner Beute? Er behauptet heute, er wollte das System der Steuerhinterziehung bei HSBC ans Licht zerren. Falcianis Bruder gibt später zu Protokoll, Hervé habe ihm gesagt, er wolle die Daten verkaufen. Georgina sagte bei ihrer Vernehmung, Falciani habe ihr versprochen, er wolle mit ihr in den Libanon ziehen, in ihre Heimat. Dort würden sie nur noch vom Geld aus dem Verkauf der Daten leben. Er brauche das Geld dringend, um die Scheidung von seiner Frau bezahlen zu können. Falciani bestreitet das alles.
Auf eine Krise mit seiner Lebensgefährtin Simona deutet wenig hin. 2007, noch während seiner Liaison mit Georgina, heiratet Falciani die Mutter seines Kindes. Gleichzeitig lässt er sich von seiner Geliebten beim Datenverkauf helfen. Sie habe für ihn eine SIM-Karte gekauft, damit Falcianis Name nicht auf den Rechnungen auftaucht, erzählt Georgina später. Und sie sollte vorsichtig mit Mails sein, weil seine Frau die lese.
Hat die Libanesin gewusst, dass es sich um gestohlene Daten handelt? Sie bestreitet das bis heute. Doch die Protokolle der Skype-Kontakte zwischen den beiden lassen Zweifel aufkommen: «Hast du gefischt?», fragt die Libanesin im März 2007. Sie nennt sich Palomino, das ist ein Pferd mit goldenem Fell und weisser Mähne. Georgina ist Pferdenärrin.
Sie will also wissen, ob Falciani neue Daten beschafft hat. «Drei Monate Updates für Adressen, Personen», antwortet der Informatiker. Palomino fragt besorgt: «Und du hast dich nicht erwischen lassen?» Falciani antwortet kryptisch: «Es fehlen noch die accounts (?) (Beträge)», und hängt noch verschwörerisch an: «Wir müssen aufpassen, Baby.»
Am 17. Juni versuchen die beiden erstmals ihre Daten zu verkaufen. Georgina schickt eine Mail an Yaser Bakr, Direktor der Direct Marketings Services in Jeddah, Saudiarabien. Ihre E-Mail-Adresse lautet ‘whitepalomino@hotmail.com’. Sie bietet dem Saudi «Finanzdaten von Bankkunden» an, aufgeteilt nach Ländern. Und sie nennt auch gleich einen Preis: 1000 Dollar pro Kunde. Allein für die 812 Saudis im Angebot hätte Bakr fast eine Million Dollar bezahlen müssen.
Was auffällt: Falciani versteckt sich bei jedem Kontakt hinter Georgina. Er bezahlt auch selber nichts. Seine libanesische Geliebte gründet und finanziert für ihn ab Dezember 2007 die Website palorva.com, ein Kürzel aus «PALO-mino», Georginas Lieblingspferden, aus «héRVe» und «georginA».
Für den Server, den Falciani extra für sein Projekt kauft, muss ihm Georgina 1'000 Euro bezahlen. Der Informatiker selber arbeitet für sein Datenprojekt konsequent am privaten Apple-Laptop seiner Frau Simona. Immerhin soll Falciani nun den lange geplanten Trip nach Libanon im Februar 2008 finanzieren. Er will dort die Daten endlich an den Mann bringen. Doch auch hier knausert Falciani. Er nimmt sich die Kreditkarte seiner Ehefrau und bucht damit am 7. Januar 2008 last minute für sich und seine Geliebte zwei Flüge via Budapest nach Beirut. Kostenpunkt 705,78 Euro.
Georgina kümmerte sich um die Logis. Sie will ins Bel Azur, ein charmantes Viersternhotel mit zwei Pools, direkt an der Mittelmeer-Riviera. In der Nacht auf Samstag, 1. Februar, reist Falciani also mit seiner Freundin nach Beirut. Seine Frau und sein kleines Mädchen bleiben zu Hause.
Indem er nie selber bezahlt, spart Falciani nicht nur Geld, er sorgt auch dafür, dass nur seine Frau und seine Geliebte Spuren hinterlassen. Er lässt Georginas richtigen Namen auf Visitenkarten seiner Scheinfirma Palorva drucken, was die Ermittler später auf ihre Spur bringt. Er selber versteckt sich jetzt hinter einem Pseudonym: Ruben Al-Chidiack. Zwischen dem 2. und dem 4. Februar 2008 sprechen die beiden bei einer ganzen Reihe von Banken in Beirut vor, darunter die Byblos Bank, die FFA Private Bank SAL und Société Générale. Allein die Credit Suisse lehnte ein Treffen ab.
Falciani tritt jeweils als «Sales Manager» Al-Chidiack auf, legt seine gefälschte Visitenkarte auf den Tisch und präsentiert am Laptop seiner Frau seine gestohlenen Kundenlisten. Dabei erzählt er, wie einfach man an solche Daten kommt, indem man Fax-Übermittlungen im «deep web» abfängt. Alles vollkommen legal. Seine Gesprächspartner reagieren verdattert bis verwirrt.
Nur bei der Bank Audi verläuft das Treffen anders. Aus Angst vor Entdeckung wollte sich Falciani nur mit Libanesen treffen. Doch als Georgina die Treffen organisierte, bemerkte sie nicht, dass die Audi Bank sie an eine Filiale weiterleitete, die von einer Schweizerin geführt wird.
Am Montag 4. Februar, sitzt Falciani also unvermittelt vor einer 47-jährigen Dame aus St. Gallen. Sie starrt auf Falcianis Laptop mit all diesen Kundendaten einer Schweizer Bank. Sie sieht das HSBC-Logo auf den Listen — und sie wird misstrauisch. Das sind doch keine legalen Faxdaten?
Nach dem Treffen verständigt sie die Schweizerische Bankiervereinigung. Ein gewisser Al-Chidiack habe ihr gestohlene Bankdaten der HSBC angeboten.
Am 7. März 2008, um 13.21, geht beim deutschen Geheimdienst BND eine Mail ein von ‘toomuchwalls@yahoo.fr’, also «Zu viele Mauern». Text: «Ich habe die Liste aller Kunden von einer der fünf grössten Privatbanken der Welt.»
Die Mail stammt von Falciani. Der Trip nach Beirut brachte ihm nichts. Doch wenige Tage nach seiner Rückkehr stand in der Zeitung, dass der BND für 4,6 Millionen Euro gestohlene Daten der Bank LGT gekauft hat. Der Präsident der Deutschen Post, Klaus Zumwinkel, wurde so überführt. Die TV-Bilder seiner Verhaftung am 14. Februar gingen um die Welt.
Die Deutschen zeigen Interesse. Falciani schreibt am 25. März von der Adresse ‘barack_j@yahoo’. co.uk an Margrit Venter vom BND: «Hier ein paar Fakten darüber was ich besitze.» Danach preist er seine Ware an wie auf einem Bazar: «Konten von 107'181 Personen, 20'130 Firmen, 40 Tabellen voll mit Daten, 70 Gigabyte Umfang.»
Auch dem Deutschen Zollkriminalamt versucht Falciani seine Ware zu verkaufen. Am Dienstag, 15. April, um 13 Uhr meldet sich eine «Gina» mit einem «osteuropäisch klingenden Akzent» bei Zollamtsrätin Barbara Neuhaus. Sie will Geld für Kundendaten. Es ist Georgina, eingepfercht mit Hervé in einer Telefonzelle neben Falcianis Fitnessclub in Genf. «Gina» versichert den Deutschen später, dass sie die Ware nur ihnen anbietet.Doch davor verschickte Falciani seine Werbe-E-Mail an den britischen Fiskus, der verständigt hinter den Kulissen die Franzosen.
Noch während Falciani mit Geheimdiensten dreier Länder jongliert, nehmen erste Spürhunde aus der Schweiz die Fährte auf.
Der Fehler von Libanon stellt sich jetzt als fatal heraus. Nach dem Fall Zumwinkel reagieren die Banker nervös auf die Meldung aus Beirut. Am 20. März verschickt die Vereinigung einen Alarm, das Bundesamt für Polizei beginnt mit Ermittlungen. Bisher haben sie nur eine Spur: die Visitenkarten des Duos aus Beirut.
Dieser Salesmanager Al-Chidiack ist unauffindbar, aber Georgina Mikhael ist sofort ermittelt. Am 28. April veranlassen die Ermittler die Überwachung des Handys der Libanesin. Am 29. Mai eröffnet die Bundesanwaltschaft ein Verfahren. Verdacht: Wirtschaftlicher Nachrichtendienst.
Im April 2008 gelangt das Anliegen eines gewissen Ruben Al-Chidiack via London und Paris auf den Tisch von Roland Veillepeau, dem mächtigen und gefürchteten Chef der obersten französischen Steuerbehörde Direction nationale des enquêtes fiscales, kurz DNEF. Veillepeau zeigt sich sofort elektrisiert.
Er veranlasst eine «intensive Vorrecherche» um herauszufinden, wer dieser Al-Chidiack ist. Ist er glaubwürdig? Ist es die Mafia, die Geld machen will? Am 28. Juni kommt es zum ersten Treffen in Frankreich, gleich hinter der Schweizer Grenze. Die Franzosen schicken Jean-Patrick Martini, 55, Chef der Brigade für Sonderermittlungen, einen der besten Steuerfahnder der Republik. Sein Spitzname: «L’Apéritif». Einerseits heisst er eben Martini, wie der Cocktail. Andererseits sehen ihn die Steuersünder, die er aufspürt, nur am Anfang. Er ist quasi ihr Apéro. Später folgt die Behörde, der «Hauptgang». Der wird in der Regel teuer. Die Fahnder warten, bei lauen 27 Grad. Schliesslich taucht der ominöse Al-Chidiack am Treffpunkt auf: lockeres T-Shirt, Rucksack geschultert. Martini trägt ein Mikrofon unter der Krawatte. Ausser Sichtweite stehen Spezialisten des französischen Auslandgeheimdienstes DGSE. Sie fotografieren Falciani aus allen Winkeln.
Eine Stunde lang umkreisen sich Martini und Al-Chidiack. Dann entscheiden sie, dass der Informatiker eine Stichprobe der Daten liefert. Fünf Tage später, am 3. Juli 2008 um 22.17, erhält Martini auf seiner privaten Adresse eine E-Mail von ‘toomuchwalls@yahoo.fr’. Betreff: «Von Ruben». Darin nur eine Datei «data.tc». Allerdings schafft es der Steuerfahnder nicht, den verschlüsselten Anhang zu öffnen. Am 7.Juli schickt Martini von seinem privaten Handy eine SMS an «Ruben» und beschwert sich, «Bonjour, der Code funktioniert nicht. Bitte zurückrufen für Präzisierung svp JPM.» Falciani schickt jetzt den Entschlüsselungscode per SMS zurück. Er lautet: bJ0$RY3T62n_chxVBMzXRGka.
Neugierig öffnet Martini die Datenprobe. Sie enthält eine Tabelle mit sieben Namen und Adressen von Franzosen samt ihrem Vermögen bei der HSBC in Dollar. Noch bis ins Jahr 2010 hoffte die HSBC, dies seien die einzigen Daten, die Falciani gestohlen hat. Sie erweisen sich als absolut exakt bis auf den Dollar. Martini ist beeindruckt.
Zwischen Falciani und Georgina steigen ab Sommer 2008 die Spannungen. Sie will wissen, wo der Server ist, den sie bezahlt und nie gesehen hat. Sie fängt an Fragen zu stellen. Dann erfährt die Geliebte von den Affären.
Weil Falciani sich die SIM-Karte von Georgina bezahlen lässt, erhält die Libanesin auch seine Abrechnungen, und sieht, mit wem er telefoniert. «Ich habe zwei Mädchen gefunden, mit denen er ausging», sagt sie später dem Magazin «Vanity Fair». «Mir hat er dann erzählt, er müsse an diesen Abenden zu Hause sein, weil seine Frau sich nicht um das Kind kümmere und er für alle kochen müsse.»
Die Polizei vernahm die beiden Damen später. Sarah*), 32, Psychologiestudentin, bestätigte, Hervé hätte bei einem Pokerturnier mit ihr angebändelt. Das war im April, unmittelbar nach dem Trip nach Libanon. Sie bezeichnete ihn in der Vernehmung als «Manipulator». Mirela*), 26, sagte gegenüber der Polizei, Hervé habe sie im Schwimmbad angesprochen im Juli. Zu der Zeit verhandelte er gerade mit Martini und dem BND und versuchte, seine Geliebte vor seiner Frau zu verstecken. Mirela sagte, er habe sie gebeten, eine SIM-Karte für ihn zu kaufen. Er sei gerade «sehr beschäftigt». Am 11. Dezember 2008 eskaliert die Situation. Hervé will an diesem Abend nicht wie versprochen mit Georgina zum Ball der HSBC gehen. Sie zerreisst die alten Visa für den Libanon, die sie noch selber organisiert hatte, und schmeisst sie auf seinen Arbeitstisch. «Ich konnte nicht mehr, die Situation war unhaltbar», sagt sie später.
Längst hat sich die Libanesin entschlossen, Hervé zu verlassen. Am 19. Dezember kündigt sie bei der HSBC. Die Schlüsselübergabe für ihre Wohnung ist für den 26. Dezember geplant.
Laurence Boillat ist Polizistin aus Leidenschaft. Sie ist Offizier der Schweizer Armee. Mit 28 war sie bereits Kommandantin der Sicherheitspolizei des Kantons Jura. Bis 2008 stieg sie auf zur Staatsanwältin der Bundesanwaltschaft. Sie ist es, die im Herbst 2008 die Fährte von Ruben Al-Chidiack aufnimmt.
Am 23. Oktober vernimmt sie die Filialleiterin aus Beirut, und zeigt ihr ein Bild von Georgina Mikhael. Die Bankerin identifiziert sie sofort. Bis zum 10. November fordert Boillat die Handydaten der Libanesin von der Genfer Polizei. Von Ende Februar bis Ende Juli stand Mikhael nicht weniger als 500-mal in Kontakt mit einem gewissen Hervé Falciani, ebenfalls Angestellter der HSBC. Ist das der gesuchte Al-Chidiack?
Dank der Telefonüberwachung erfährt Boillat Ende Dezember, dass Mikhael ihre Wohnung für den 26. Dezember kündigt. Sie hat den Verdacht, dass die Libanesin flüchten will — und handelt.
Am Montag, 22. Dezember, morgens um 10:30 taucht sie mit einer Polizeieskorte am Arbeitsplatz von Georgina auf. Sie nimmt die Libanesin sofort ins Kreuzverhör. Innert Minuten gesteht sie: Ja, Ruben Al-Chidiack ist Hervé Falciani. Ja, sie waren in Beirut. Ja, sie haben der Audi Bank Daten der HSBC angeboten. Aber der Kopf des Ganzen, so Georgina, sei Falciani gewesen, nicht sie!
Nach dem Verhör von Georgina knöpft sich die Staatsanwältin diesen «Hervé» vor. Während die Polizei sein Büro durchsucht, wird der Informatiker abgeführt zur Zentrale der Genfer Kantonspolizei am Chemin de la Gravière 5. Während Stunden wird er dort verhört. Doch Falciani ist aus härterem Holz als seine Geliebte. Er gibt nichts zu.
Kurz vor Mitternacht fängt Hervé an zu jammern. Wie so oft schiebt er seine Familie vor. Seine kleine, dreijährige Tochter sei doch behindert. Er müsse zu ihr schauen, er müsse jetzt wirklich unbedingt nach Hause. Es sei doch Weihnachten.
Charmeur Falciani zieht bei Staatsanwältin Boillat nun alle Register — und er gewinnt. In diesen Minuten trifft sie die wohl folgenschwerste Entscheidung ihrer Karriere: Sie lässt Falciani ziehen — und verpasst die letzte Gelegenheit, den Abfluss der Daten ins Ausland zu verhindern.
Er solle sich doch morgen früh um 9:30 wieder melden, und das Land dürfe er nicht verlassen, verlangt sie noch. Aber sie wird Falciani nie wieder in ihre Gewalt bekommen.
Der schnappt sich sein Trottinett, mit dem er stets zur Arbeit fährt. Innert sieben Minuten ist er zu Hause. Er packt hastig alles zusammen, nimmt Tochter und Frau an die Hand und flieht aus der Wohnung, den Schlüssel lässt er von aussen stecken. Stunden nach dem Verhör ist er mit einem Mobility-Auto über der französischen Grenze.
Warum lässt Boillat Falciani ziehen? Die Bundesanwaltschaft sagt, es habe zu wenig vorgelegen für eine Verhaftung. Zu diesem Zeitpunkt habe Boillat auch noch nicht gewusst, wie viele Daten Falciani tatsächlich gestohlen hat, und ob es nicht nur ein paar gefälschte Screenshots waren, die er in Libanon zeigte. Juristisch wäre eine vorläufige Festnahme wohl möglich gewesen, oder zumindest eine Überwachung des Verdächtigen zu Hause.
Ein Beteiligter sagt später, Charmeur Falciani habe einfach erfolgreich «an die Gefühle» von Staatsanwältin Boillat appelliert — sein Talent mit den Frauen habe Falciani letztlich gerettet.
Es ist der 26. Dezember, 10 Uhr morgens. Hervé Falciani hat die fünf DVDs in den Händen. Ihm gegenüber sitzt Steuerfahnder Jean-Patrick Martini, den Milliardenschatz in Griffweite.
Seit Martini die sieben Namen aus der HSBC erhalten hat, sind fast sechs Monate vergangen. In dieser Zeit hat der Steuerfahnder alles gemacht, um in den Besitz von Falcianis Daten zu kommen.
Er hatte mehrfach herzliche Mails geschrieben an «Ruben», wie er ihn nun freundschaftlich nannte. Er umgarnte ihn. Zweimal hat er sich mit dem Informatiker noch persönlich getroffen. Das letzte Mal am 6. Dezember in St. Julien nahe der Schweizer Grenze. Für dieses Treffen brachte er sogar eine Profilerin vom Auslandgeheimdienst DGSE mit, eine Spezialistin für die Rekrutierung und Auswertung von «Quellen». Anderthalb Stunden redeten sie auf «Ruben» ein, danach hängten sie noch ein spätes Frühstück dran. Auch dieses Gespräch wurde heimlich gefilmt. Martini schlug ihm damals sogar vor, ihn aus der Schweiz herauszuholen — vergeblich.
Doch am 24. Dezember um 15 Uhr rief der wendige Ruben unerwartet auf Martinis privatem Handy an. Diesmal war er in Angst. Er sei auf der Flucht, er brauche Hilfe. Und jetzt nannte er auch endlich seinen richtigen Namen: Er heisse Hervé, Hervé Falciani. Die beiden sind sofort beim «Du». Die HSBC habe ihn gestern gefeuert, erzählt Hervé. Die Schweizer Staatsanwältin rufe ihn dauernd an, er werde gejagt wie ein Wild. Ist das die lange ersehnte Gelegenheit für Martini?
Der Steuerfahnder drängte Falciani, ihm sein Material sofort zu übergeben. Er organisierte sogar einen Anwalt für den Datendieb. Falciani willigte schliesslich ein, Martini am 26. Dezember am Flughafen Nizza zu treffen. Und hier sitzen sie also. Es ist der Moment, wo Hervé nach Monaten Verhandlung die fünf DVDs in Jean-Patricks Hand drückt. Zweifellos ein hübsches Weihnachtsgeschenk für die Republik — doch das Schicksal hat noch ein zweites Geschenk für «L’Apéritif» parat.
Bei den Schweizer Ermittlern ist man sich nach den Feiertagen einig, dass man Falciani nicht mehr kriegt. Am 5. Januar schreiben sie ihn bei Interpol zur Fahndung aus. Er steht nun in den Datenbanken von Schengen und Ripol. An jedem Zoll auf dem Kontinent würde man ihn festhalten.
Sie vermuten zu Recht, Falciani verstecke sich im Ferienhaus seiner Eltern bei Nizza. Am 9.Januar schicken sie ein dringendes Rechtshilfegesuch an den Staatsanwalt von Nizza. Der weiss noch nichts von Falcianis Daten und hilft bereitwillig. Staatsanwältin Boillat reist sofort mit einem Kommissar und einem Inspektor der Bundeskriminalpolizei nach Südfrankreich. Am 20.Januar um 7:10 fährt das Schweizer Trio mit einer ganzen Karawane französischer Polizeikarossen vor das Ferienhaus von Falcianis Eltern an der Route de la Condamine in Castellar an der italienisch-französischen Grenze. Die Beamten kommen mit Durchsuchungsbefehl, beschlagnahmen Falcianis Apple-Laptop G4, sein Notizbuch, sein neues iPhone 3G, 16 Gigabyte, ein Siemens-Handy SL 65, versteckt in der linken Schublade seines Tisches und seinen Qbic-Server. — Dass die Computer auch die gestohlenen Bankdaten der HSBC-Kunden enthalten, wissen die Polizisten aus Nizza nicht.
Falciani wird auf die Gendarmerie der nahe gelegenen Stadt Menton abgeführt. Auf der Fahrt drängt er einen Polizisten, doch Steuerfahnder Martini vom DNEF Bescheid zu geben, damit er ihm hilft. Er raunt dem Mann zu, es seien Daten auf seinem Server, die für Frankreich wichtig sind. Im Verhör mit Boillat verweigert Falciani jede Aussage zu Martini.
Die Staatsanwältin wiederum versucht zu erreichen, dass die Polizei in Nizza ihr Falcianis Computer mitgibt. Was da drauf ist, sagt sie nicht so genau. Die Schweizer seien nicht so offen gewesen, was sich auf dem Server befand, steht im Bericht des französischen Parlaments: «Sie betonten immer die Affäre in Libanon, ohne klar zu sagen, um was für gestohlene Daten es sich eigentlich handelt.»
Boillat hat wohl Angst, dass die Franzosen den Wert der Daten erkennen — und genau das passiert. Nach stundenlangem Verhör darf Falciani in einer Pause telefonieren. Um 15 Uhr 18 wählt er «Jeanpatrick» auf seinem Handy, doch Martini nimmt nicht ab. Erst zwei Minuten später kommt er durch.
Der Steuerfahnder veranlasst sofort, dass der Chef des DNEF beim Staatsanwalt von Nizza interveniert. Noch während Boillat Falciani vorsichtig verhört, erfahren die französischen Polizisten um sie, was für einen Schatz sie gehoben haben. Als Boillat den Server schliesslich in die Schweiz mitnehmen will, lehnen die Polizisten ab. Begründung: Höhere Interessen des französischen Staates.
Doch es sollte noch schlimmer kommen für die Schweiz.
Martini steht nach der Übergabe der DVDs vor unlösbaren juristischen Problemen. Er weiss zwar nun, wer die mutmasslichen Steuersünder sind, aber nach französischem Recht darf er gestohlene Daten vor Gericht nicht einsetzen.
Doch mit ihrem Rechtshilfegesuch hat die Schweiz der französischen Justiz einen amtlichen Grund geliefert, Falcianis Daten auf dessen Computer zu beschlagnahmen. Nach französischem Recht darf man amtlich beschlagnahmte Beweismittel verwenden, auch wenn sie aus einem Verbrechen stammen. Der parlamentarische Untersuchungsbericht vermerkt später triumphierend: «Man kann also mit einer etwas flapsigen Formulierung sagen, dass der Staatsanwalt von Nizza Falcianis Daten "gewaschen" hat».
Boillat geht nach dem Verhör mit leeren Händen zurück. Falciani muss die Nacht auf der Gendarmerie verbringen, doch bei den Polizisten hat sich die Stimmung gewendet. Hervé kriegt die VIP-Zelle. Am Morgen, pünktlich um acht, bringen die Wachen mit dem üblichen Kaffee noch frische Croissants, «mit Empfehlung der nationalen Steuerbehörde».
Kaum ist Falciani aus dem Gefängnis befreit, startet die französische Steuerfahndung ein bis dato einmaliges Grossprojekt, um die HSBC-Daten auszuschlachten. Codewort: «Operation Chocolat».
Ein ganzes Team bestehend aus zwei Brigaden mit über 20 Spezialisten und Technikern wird im Februar 2009 nach Nizza verlegt und mietet sich dort in einem Hotel ein. Zeitweise werden noch drei weitere Brigaden beigezogen, das Team erreicht fast Kompaniestärke. Für die Operation wird eine eigene, hochspezialisierte Software angeschafft, für 300'000 Euro.
Die Atmosphäre ist angespannt. Die Spezialisten fühlen sich von ausländischen Geheimdiensten verfolgt. Martini läuft gar mit Polizeischutz herum.
Zu Beginn sind die Techniker von Falcianis Daten komplett überfordert: «Man musste erst mal die Codes dieser Bank verstehen», erzählt Cheftechniker Thibault L. später einem Untersuchungsausschuss. Der Einzige, der letztlich helfen konnte, war Falciani selber. Nicht weniger als 102-mal mussten ihn die Techniker innerhalb der sechsmonatigen Entschlüsselungsarbeit anrufen und um Rat fragen. «Ohne Falciani hätten wir keine Chance gehabt», sagt Martini später.
Erst nach Monaten forensischer Kleinarbeit gelingt es Falciani und dem «Team Chocolat», die Daten der Vermögen mit den Namen der Kunden zu verbinden. Sie erstellen schliesslich eine Liste mit 106'682 Personen und 20'129 Firmen mit ihrem jeweiligen Vermögen zwischen dem 9. November 2006 und dem 31. März 2007.
Dies sind letztlich die Falciani-Daten, die sich in den kommenden fünf Jahren zur Superwaffe der Steuerfahnder in zehn Ländern entwickeln werden. In Frankreich beginnen die Behörden schon im August 2009, gegen 2956 Personen zu ermitteln.
Nichtsahnend von der gigantischen Operation, verhandelt der Schweizer Finanzminister Hans-Rudolf Merz derweil ein neues Steuerabkommen mit Frankreich. Paris soll erlaubt werden, bei Verdacht auf Steuerhinterziehung um Amtshilfe zu bitten. Aber was ist, wenn der Verdacht auf gestohlenen Daten beruht? Der Bundesanwaltschaft schwant Unheil. Sie informiert am 26. Januar die Eidgenössische Steuerverwaltung im Finanzdepartement von Merz, dass ein Dieb Daten der HSBC dem französischen Fiskus übergab. Dort nimmt das niemand ernst. Als ein Jurist bei der Steuerverwaltung anfragt, ob man denn nicht Datendiebstahl beim neuen Abkommen ausklammern müsse, winkt die Behörde ab — obwohl sie zu der Zeit bereits von Falcianis Diebstahl weiss.
Am 27. August 2009 unterzeichnet ein stolzer Bundesrat Merz im Lichtsaal des Bernerhofes feierlich das neue Steuerabkommen mit Paris. Angereist ist auch die französische Wirtschaftsministerin Christine Lagarde. Sie versichert, Frankreich werde keine Fischzüge nach Steuersündern starten, sondern die Schweiz nur anfragen, wenn sie konkrete Namen und Adressen von Verdächtigen habe.
48 Stunden später verkündet der französische Budgetminister zum Entsetzen der Schweiz, er sei im Besitz von 3000 konkreten Namen und Adressen von verdächtigen Steuersündern mit Bankkonten in der Schweiz. Der CEO der HSBC tut das noch ab als «Lärm der französischen Behörden».
Einige Wochen später, am 9. Dezember 2009, enthüllt die Zeitung «Le Parisien», die 3000 Namen kämen von der HSBC. Vier Tage später lächelt deren Ex-Informatiker Hervé Falciani in die Kameras und erklärt der Welt: Ich bin der Dieb. Bundesrat, Parteien, Banken reagieren konsterniert.
Finanzminister Merz droht, das Abkommen nicht mehr zu ratifizieren. Er will nun auch keine Amtshilfe mehr gewähren bei gestohlenen Daten, was sein Departement im Sommer noch guthiess.
Es kommt zu ernsten Spannungen zwischen Frankreich und der Schweiz. Erst nach ultimativen Forderungen aus Bern liefert Frankreich Kopien der Daten von Falciani via Botschaft in Paris in die Schweiz.
Erst jetzt erkennt man in Bern und Genf, welch gigantisches Leck die HSBC hat. Die Daten gehen in den folgenden Monaten nach Spanien, Belgien, Grossbritannien, Indien, USA, Kanada, Australien, Irland, Griechenland und Argentinien. Über die Jahre entwickeln sie die Wirkung einer Bombe in Zeitlupe: Sie lösen Tausende Steuerverfahren weltweit aus. In zwei Ländern laufen Strafverfahren gegen die HSBC als Bank. Mehr werden folgen. Mittlerweile ist es ein Wirtschaftskrieg, der sich hier abspielt, und Hervé Falciani, der Pokerspieler aus Monaco, ist bei alledem nur noch Zaungast. 2012 sorgte er noch einmal für Schlagzeilen, als ihn die Spanier nach einer Reise mit einem Boot am Hafen von Barcelona festnahmen — aufgrund des internationalen Haftbefehls von Boillat. Er dachte, es gäbe am Hafen keine Kontrollen. Sechs Monate schmorte er im Gefängnis von Valdemoro bei Madrid. Die Bundesanwaltschaft schöpfte damals noch einmal Hoffnung. Aber am 8. Mai 2013 liessen ihn die Spanier frei. Zu viel hatten ihm die Steuerbehörden auf der ganzen Welt zu verdanken. Am 11. Dezember 2014 erhob die Bundesanwaltschaft Anklage gegen Hervé Falciani. Es blieb ihr nichts anderes mehr übrig. Im Februar 2012 hatten sich zwei Bundesanwälte noch einmal mit Falciani getroffen, um einen Deal auszuloten. Doch der lehnte ab. 2015 wird es wohl zu einem Prozess in seiner Abwesenheit kommen.
Heute lebt Falciani an einem geheim gehaltenen Ort in Frankreich. Von was genau er lebt, ist nicht bekannt. Er selber und alle französischen Behörden haben stets versichert, er sei nicht bezahlt worden. Gewissheit herrscht nicht.
Am 15. Dezember konnte auch ein Reporterteam von «Le Monde» ein weiteres Mal ein Interview mit dem Datendieb führen. Er hat seine Version der Ereignisse dabei erneut geändert. Aber darauf achtet kaum noch jemand. Zu viel hat er schon geblufft und gespielt mit der Wahrheit.
Doch letztlich hat er nicht schlecht gepokert mit den Karten, die er hatte. Am Ende der ganzen Geschichte hat das Schicksal ihm eine Rolle zugeschrieben, die ihm passen dürfte: Für die meisten ist er der Held.
*) | Namen geändert |
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HSBC-Filiale in Genf: Oft werde das Prüfen der Geldherkunft mit Scheuklappen angegangen, sagen Schweizer Finanzexperten.
Foto: M.Henley/Panos
HSBC-Filiale in Genf: Oft werde das Prüfen der Geldherkunft mit Scheuklappen angegangen, sagen Schweizer Finanzexperten.
Foto: M.Henley/Panos
Bern — Banken investieren in die Jagd nach Geldwäschern jährlich Hunderte Millionen Franken. Tausende sogenannte Alerts landen täglich auf den Schirmen der Compliance-Abteilungen. Sie werden automatisch generiert von Systemen, mit denen die Banken die Transaktionen ihrer Kunden laufend überwachen. Die Software schlägt bei vordefinierten Kriterien Alarm, zum Beispiel, wenn häufige Überweisungen aus dem Ausland kommen.
Erscheint ein Alert auf dem Radar, durchstöbern die Compliance-Spezialisten sofort Kundendossiers, recherchieren in der weltweiten Datenbank World Check, in der sogenannt politisch exponierte Personen (PEP) und weitere Risikokunden verzeichnet sind — oder machen sich bei Google schlau: Lässt sich die Zahlung plausibel erklären — oder bahnt sich hier ein Geldwäschereirisiko an?
Der Aufwand ist gross. Doch nachdem Journalisten aus 45 Ländern, darunter jene der SonntagsZeitung, die Kunden der Privatbank HSBC aus dem Jahr 2007 unter die Lupe nahmen, herrscht Ernüchterung. Sie stiessen auf Dutzende Klienten, die in Terrorfinanzierung, Drogen- und Waffenhandel involviert waren.
Experten sind überzeugt, dass die HSBC kein Einzelfall ist und die Probleme bis heute bestehen. «Täglich werden in unseren Banken grosse Summen gewaschen, nur merkt das niemand, weil das Geld bereits im Ausland vorgewaschen wurde», sagt der Berner Compliance-Experte Michael Kunz. Bis es in der Schweiz zu einer Verurteilung wegen Geldwäscherei komme, müssten bis zu 100'000 Alarme verarbeitet werden, sagt der Rechtsanwalt, der einst als Untersuchungsrichter den Wirtschaftskriminellen Werner K. Rey zur Strecke brachte.
Auch für Daniel Thelesklaf, Direktor der Liechtensteiner Anti-Geldwäschereibehörde Financial Intelligence Unit (FIU), ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Geldwäschereiskandal hochgespült wird. «Die HSBC ist nicht der letzte Fall, da werden wir noch mehr sehen», sagt er. Was läuft schief? Es gebe drei Möglichkeiten, wie Geld von Kriminellen in eine Schweizer Bank komme, erklärt David Zollinger, einst Staatsanwalt und Banker, heute selbstständiger Legal-Risk-Manager. «Es gibt erstens Kunden, die man nicht als Problem erkennen kann, weil sie extrem gut getarnt auftreten und eine lückenlose Geschichte präsentieren. Gegen diese ist man machtlos und immer erst im Nachhinein klüger.
Michael Kunz macht ein Beispiel: «Wenn ein russischer Oligarch mit dreistelligen Millionenbeträgen in der Schweiz vorstellig wird, ist der Beleg, dass es sich um kriminelles Geld handelt, für eine Schweizer Bank schwierig.» Wenn er dann noch nachweisen könne, dass es sich um den Gewinn aus einem Rohstoffgeschäft handle, an dem er beteiligt war, sei er fein raus. Kunz: «Dann bleibt Bankern nur noch das Bauchgefühl – und dieses neigt gerne zum Geld.»
Banken und ermittelnde Behörden stehen in einem ständigen Wettlauf mit der Finanzunterwelt, warnen die Experten. «Diesen Wettlauf haben wir noch lange nicht gewonnen», sagt Thelesklaf, denn Kriminelle könnten weiterhin auf die Dienstleistungen von versierten Finanzspezialisten zählen.
Es gibt zweitens jedoch auch Fälle, in denen eine Bank kriminelle Kunden entdecken kann — wenn sie gut genug hinschaut. Experte Zollinger macht ein Beispiel:
«Wenn ein Kunde aus Zentralasien kommt und einen Millionenbetrag anlegen möchte, dann braucht es eben einen Russisch sprechenden Compliance-Experten, der auch in Datenbanken und auf Websites des Heimatlandes sucht.» Sollte sich dann ergeben, dass es sich um einen Politiker handelt, um eine PEP, dann könne man sich nicht zufriedengeben, wenn er noch eine Handelsfirma führe und so an Geld kam. «Man muss in solchen Fällen abchecken, woher das Startkapital stammt und ob es politische Begünstigungen gab», so Zollinger. Mehrere Geldwäschereifälle der letzten Jahre hätten sich so verhindern lassen.
In der Praxis, so die Experten, schaue man aber zu schnell weg. Oft werde das Prüfen mit Scheuklappen angegangen, sagt Michael Kunz: «Das nicht sehen zu wollen, ist teils immer noch Strategie einiger Banken.»
Dies stimmt vor allem beim dritten Kundentyp, bei dem selbst einfache Abklärungen ergeben würden, dass er verdächtig sei. Bei der HSBC fanden Journalisten erschreckend viele solcher Kunden, die noch 2007 dort ein Konto hatten. Etwa den Diamantenhändler Emmanuel Shallop, der in einem Bericht des UNO-Sicherheitsrates genannt wurde, weil er den Handel mit Blutdiamanten finanziert habe. Shallop sagte seinem Kundenberater sogar selber, dass gegen ihn ermittelt werde. Trotzdem nahm die Bank weiter Millionen von ihm an. Später wurde er zu fünf Jahren Haft verurteilt.
Es gibt sogar Extremfälle, in denen die Kriminellen in der Bank selber sitzen — wie in jenem Fall einer osteuropäischen Bank, die zwei Korrespondenzkonten bei einer belgischen Bank einrichtete. Erst nachdem durch diese Kanäle über eine Milliarde Euro geflossen waren, wurde belgischen Finanzermittlern klar, dass zahlreiche Kunden der Osteuropa-Bank Gelder aus Korruption und organisierter Kriminalität verschoben hatten.
In solchen Fällen spiele die Unternehmenskultur eine wichtige Rolle, sagt Zollinger. «Es ist letztlich eine Frage der Linienführung, wen man auswählt, wie genau man hinschaut und wo man auch mal draufklopft.» Doch es gebe noch heute an vielen Stellen eine problematische Kultur, die lautet: «Ablehnen nur dann, wenn ganz konkrete Probleme drohen. Reagieren erst, wenn es nicht anders geht. Neugeld ist fast immer gut, denn abgelehntes Neugeld kommt der Konkurrenz zugute.»
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Bern — Seit Montag verlangt ein halbes Dutzend Länder von Frankreich Zugriff auf die gestohlenen Kontoinformationen der HSBC Schweiz. Basierend auf diesen Daten berichten Journalisten aus über 45 Staaten, darunter «Tages-Anzeiger» und SonntagsZeitung, über Schwarzgelder, die 2007 bei der HSBC lagen. Frankreich hat die Daten mit 10 Ländern geteilt. Österreich, Dänemark, Schweden, Norwegen und Israel verlangen jetzt ebenfalls Zugriff. Griechenland und Deutschland fordern zusätzliche Details.
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