Kaum ein Land hat ein so dichtes öffentliches Verkehrsnetz wie die Schweiz. Züge verkehren im Halb- oder Viertelstundentakt. Fern- und Regionalverkehr sowie Busse und Trams sind miteinander vernetzt. Zum Erfolgsrezept gehört auch, dass sich der Kunde mit einem einzigen Billett in der ganzen Schweiz bewegen kann, egal in welchen Verkehrsverbünden und mit welchen Transportunternehmen er unterwegs ist. Festgehalten ist dieses Prinzip im Personenbeförderungsgesetz. Doch diese Mobilität wird aus Sicht des Bundesamts für Verkehr (BAV) durch einen Tarifdschungel bedroht. Im öffentlichen Verkehr (ÖV) der Schweiz gibt es laut der Aufsichtsbehörde zwischen 7000 und 8000 verschiedene Billette: Die Palette reicht von Strecken- und Zonenbilletten über 9-Uhr-Pässe, Tages- und Mehrfahrtenkarten bis zu City-Tickets und Spar-Billetten. Dazu kommen Monats-, Jahres-, Strecken- oder Generalabonnemente, und vieles davon auch noch für Velos und Hunde. «Das Billettsystem der Schweiz ist nicht kundenfreundlich. Der Kunde kann oft nicht sicher sein, ob er das günstigste Angebot gewählt hat», sagt BAV-Sprecherin Olivia Ebinger.
Einen Grund für die Unübersichtlichkeit sieht das BAV in der steigenden Zahl regionaler Tarif- und Verkehrsverbünde, von denen es in der Schweiz mittlerweile 19 gibt. Verbünde wie der ZVV, Libero, Ostwind oder Passepartout erleichtern zwar die Mobilität innerhalb des Verbundnetzes. Sobald man dieses jedoch verlässt, wird es für die Kunden schwierig, das richtige Ticket zu finden und vor allem den günstigsten Preis. Zudem seien beim Billettkauf über Internet oder Smartphone-App nicht überall alle Angebote erhältlich, kritisiert das BAV. Neben der SBB hat jeder Verbund eigene Verkaufskanäle: Automaten, Online-Ticketshops und Apps. Einzelne Verbünde wollen zudem laut BAV den Zugriff auf ihr Sortiment für andere Transportunternehmen einschränken. «Damit werden Reisen zwischen zwei Verbundgebieten erschwert, und es entstehen Kundenfallen», hält das BAV fest.
Das BAV fordert eine nationale Billettplattform, auf der die ganze Angebotspalette des ÖV Schweiz verfügbar ist. Dies setze eine Harmonisierung und Verkleinerung des Sortiments voraus. So müssten überall die gleichen Bestimmungen für die Gültigkeit eines Billetts gelten. Heute ist etwa eine Tageskarte im Zürcher Verkehrsverbund (ZVV) 24 Stunden ab Bezug gültig, bei den SBB und in anderen Verbünden wie Libero (Bern) oder Passepartout (Zentralschweiz) bis um 5 Uhr morgens des Folgetages. Selbst die Frage, wann ein Hund ein Ticket haben muss, beantworten nicht alle gleich. Beim ZVV dürfen «kleine Hunde, Katzen und ähnliche zahme Kleintiere» in Taschen oder Körben gratis mitreisen. Bei der SBB und in anderen Verkehrsverbünden gilt als zusätzliches Kriterium für eine Gratisfahrt die Schulterhöhe des Hundes von maximal 30 Zentimetern.
Auch die Vereinigung Pro Bahn fordert eine massive Vereinfachung der ÖV-Tarife. «Viele ÖV-Benutzer sind vom Tarifwildwuchs überfordert», sagt Karin Blättler, Präsidentin der Interessensvertretung für ÖV-Benutzer. Blättler reist zwei- bis dreimal pro Woche über das Verbundgebiet ihres Wohnorts Luzern hinaus, seit Jahren mit dem Generalabonnement (GA). Um die Perspektive anderer ÖV-Benutzer einzunehmen, machte sie einen Selbstversuch und reiste ohne GA herum. «Nach einem halben Jahr war ich der Verzweiflung nahe und habe das GA wieder gekauft, obwohl ich es nicht herausschlage.»
Das BAV mahnt die Branche zur Eile. Falls sie sich nicht auf einfachere Standards und einen Verkaufskanal einige, werde früher oder später der Druck von aussen kommen. Es sei gut möglich, dass eine internationale Buchungsplattform in den Billettverkauf einsteige, warnt Ebinger. Die Branche, die im Verband öffentlicher Verkehr (VÖV) organisiert ist, hat die Gefahr erkannt. Ab 2019 sollen alle Transportunternehmen und Verbünde auf das auf einer neuen Datenbank gespeicherte Billettsortiment Zugriff haben und es verkaufen können. SBB, BLS und Verkehrsverbünde wie der ZVV stellen eine Vereinfachung des Sortiments in Aussicht, was aber noch Jahre dauern dürfte. «Die ÖV-Branche erarbeitet zurzeit gemeinsam Lösungen für die künftige Tarif- und Vertriebslandschaft in der Schweiz», sagt Stefan Kaufmann vom ZVV.
Die Transportbranche gehe falsch vor, kritisiert Blättler. Statt zuerst das Tarifsystem zu vereinfachen, versuche sie zuerst eine Ticketplattform über die komplizierte Tariflandschaft zu legen. Zudem dürfe man nicht nur an Smartphone-Benutzer denken, die ihr Billett über eine App bezahlten, sondern auch an jene, die es am Automaten lösten.
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Eine einfachere Benutzung des ÖV versprechen Mobilitäts-Apps wie Lezzgo. Der Kunde meldet sich beim Einsteigen ins öffentliche Verkehrsmittel über die App an, ohne dass er ein Billett kaufen muss. Über die GPS-Funktion des Handys registriert das System, welche Strecke gefahren wird. Beim Aussteigen meldet sich der Kunde wieder ab. Es können beliebig viele Fahrten gemacht werden. Am Schluss des Tages berechnet das System die Fahrkosten, Vergünstigungen wie City-Tickets werden berücksichtigt. Der Kunde bezahlt per Kreditkarte und nie mehr als den Preis einer Tageskarte. Zurzeit funktioniert die von der BLS eingeführte Lezzgo-App in den Verbünden Libero (Bern), Passepartout (Zentralschweiz), Onde verte (Neuenburg) und Frimobil (Freiburg). Ab Juni wird das Gebiet versuchsweise auf das ganze Mittelland ausgeweitet. Lezzgo kann von Testpersonen von der Waadt bis in die Ostschweiz benutzt werden. Aus Sicht des BAV ändern Apps wie Lezzgo nichts an der Notwendigkeit, die Tarife zu vereinfachen. Für ÖV-Benützer müsse im Voraus ersichtlich sein, was eine Fahrt koste.
(br)
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Wenn in der Zeitung Berichte über die SBB kommen, scheidet sich die Leserschaft meist in zwei Gruppen. Die einen Leute sind die, die nicht oder nur selten Zug fahren. Die andere Gruppe — das sind die Häufig-Bahnfahrer. Die Betroffenen. Sie denken sich beim Lesen jeweils ihren Teil.
Zum Beispiel gestern. Da kamen in dieser und in anderen Zeitungen Berichte über den neuen Hochgeschwindigkeitszug EC250 Giruno, den Hersteller Stadler Rail am Donnerstag vorgestellt hatte. Er wird ab 2019 auf der Gotthardlinie der SBB fahren — und bietet eine interessante Neuerung: Im Giruno wird es «WC-Inseln» geben. Jede Insel besteht aus einem WC für alle, einem WC für Frauen sowie einem Pissoir.
Bis anhin war die hiesige Bahn ein Ort der Unisex-Toiletten, der geschlechterneutralen WCs, so ist man sich das seit Jahrzehnten gewohnt. Aber es mag durchaus sein, dass im Giruno eintritt, was SBB-Chef Andreas Meyer an besagter Präsentation vermutete: dass mit der kommenden Geschlechterteilung mehr Sauberkeit einhergehen könnte. Fährt der Zug grad über ein Weichenfeld, ist die Chance beim Pissoir jedenfalls grösser als bei der klassischen Toilette, dass der Stehpinkler trifft.
Das sogenannte Dritte Geschlecht, das in der letzten Zeit in die Medien drängt, sollte mit den WC-Inseln auch zufrieden sein. Den Leuten, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen, ist mit der neutralen Kabine für alle Genüge getan. Ausgegrenzt wird niemand.
Ist somit alles gut? Hier scheidet sich nun eben die Leserschaft. Der Häufig-Bahnfahrer als Skeptiker der Praxis denkt an die Bahnreisen der letzten Zeit. Gefühlt jedes dritte Mal sass er in einem Waggon mit einem WC, das gesperrt war; ein Kleber an der Tür zeigte es an. Die Nichtverfügbarkeit der Toilette reichte, um seinen Harndrang zu stimulieren, sodass eine aufwendige Traverse in den nächsten Waggon des voll besetzten Doppelstöckers nötig wurde.
Die Frage ist aus der Warte des Zugpassagiers nicht, welche Art WC die SBB bieten. Die Frage ist: Werden die WCs regelmässig gewartet — sind sie auch wirklich offen?
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