ÖV
Die Bil­lett­an­ge­bo­te im öf­fent­li­chen Ver­kehr sind bis­her we­nig har­mo­ni­siert. Im Bild ein SBB- und ein BLS-Zug im Bahn­hof Bern.   Foto: Alessandro della Valle (Keystone)
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Den Tarif-Dschun­gel aus­lich­ten

Das Bun­des­amt für Ver­kehr for­dert von den ÖV-Un­te­rneh­men ein ein­fa­che­res Bil­lett­sor­ti­ment und eine na­tio­na­le Tic­ket­platt­form — sonst wer­de eine in­ter­na­tio­na­le Bu­chungs­platt­form ins Ge­schäft ein­stei­gen.

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Markus Brotschi, Bern

Kaum ein Land hat ein so dich­tes öf­fent­li­ches Ver­kehrs­netz wie die Schweiz. Zü­ge ver­keh­ren im Halb- oder Vier­tel­stun­den­takt. Fern- und Re­gio­nal­ver­kehr so­wie Bus­se und Trams sind mit­ein­an­der ver­netzt. Zum Er­folgs­re­zept ge­hört auch, dass sich der Kun­de mit einem ein­zi­gen Bil­lett in der gan­zen Schweiz be­we­gen kann, egal in wel­chen Ver­kehrs­ver­bün­den und mit wel­chen Trans­port­un­ter­neh­men er un­ter­wegs ist. Fest­ge­hal­ten ist die­ses Prin­zip im Per­so­nen­be­för­de­rungs­ge­setz. Doch die­se Mo­bi­li­tät wird aus Sicht des Bun­des­amts für Ver­kehr TOP (BAV) durch einen Ta­rif­dschun­gel be­droht. Im öf­fent­li­chen Ver­kehr (ÖV) der Schweiz gibt es laut der Auf­sichts­be­hör­de zwi­schen 7000 und 8000 ver­schie­de­ne Bil­let­te: Die Pa­let­te reicht von Strec­ken- und Zo­nen­bil­let­ten über 9-Uhr-Päs­se, Ta­ges- und Mehr­fahr­ten­kar­ten bis zu Ci­ty-Tic­kets und Spar-Bil­let­ten. Da­zu kom­men Mo­nats-, Jah­res-, Strec­ken- oder Ge­ne­ral­abon­ne­men­te, und vie­les da­von auch noch für Ve­los und Hun­de. «Das Bil­lett­sys­tem der Schweiz ist nicht kun­den­freund­lich. Der Kun­de kann oft nicht si­cher sein, ob er das gün­stig­ste An­ge­bot ge­wählt hat», sagt BAV-Spre­che­rin Oli­via Ebin­ger.

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Einen Grund für die Un­über­sicht­lich­keit sieht das BAV in der stei­gen­den Zahl re­gio­na­ler Ta­rif- und Ver­kehrs­ver­bün­de, von de­nen es in der Schweiz mit­tler­wei­le 19 gibt. Ver­bün­de wie der ZVV, Li­be­ro, Ost­wind oder Pas­se­par­tout er­leich­tern zwar die Mo­bi­li­tät in­ner­halb des Ver­bund­net­zes. So­bald man die­ses je­doch ver­lässt, wird es für die Kun­den schwie­rig, das rich­ti­ge Tic­ket zu fin­den TOP und vor al­lem den gün­stig­sten Preis. Zu­dem sei­en beim Bil­lett­kauf über In­ter­net oder Smart­pho­ne-App nicht über­all al­le An­ge­bo­te er­hält­lich, kri­ti­siert das BAV. Ne­ben der SBB hat je­der Ver­bund eige­ne Ver­kaufs­ka­nä­le: Auto­ma­ten, On­li­ne-Tic­ket­shops und Apps. Ein­zel­ne Ver­bün­de wol­len zu­dem laut BAV den Zu­griff auf ihr Sor­ti­ment für an­de­re Trans­port­un­ter­neh­men ein­schrän­ken. «Da­mit wer­den Rei­sen zwi­schen zwei Ver­bund­ge­bie­ten er­schwert, und es ent­ste­hen Kun­den­fal­len», hält das BAV fest.

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Wann ist ein Hund ein Hund?

Das BAV for­dert eine na­tio­na­le Bil­lett­platt­form, auf der die gan­ze An­ge­bots­pa­let­te des ÖV Schweiz ver­füg­bar ist. Dies set­ze eine Har­mo­ni­sie­rung und Ver­klei­ne­rung des Sor­ti­ments vor­aus. So müss­ten über­all die glei­chen Be­stim­mun­gen für die Gül­tig­keit eines Bil­letts gel­ten. Heu­te ist et­wa eine Ta­ges­kar­te im Zür­cher Ver­kehrs­ver­bund (ZVV) 24 Stun­den ab Be­zug gül­tig, bei den SBB und in an­de­ren Ver­bün­den wie Li­be­ro (Bern) oder Pas­se­par­tout (Zen­tral­schweiz) bis um 5 Uhr mor­gens des Fol­ge­ta­ges. Selbst die Fra­ge, wann ein Hund ein Tic­ket ha­ben muss, be­ant­wor­ten nicht al­le gleich. Beim ZVV dür­fen «klei­ne Hun­de, Kat­zen und ähn­li­che zah­me Klein­tie­re» in Ta­schen oder Kör­ben gra­tis mit­rei­sen. Bei der SBB und in an­de­ren Ver­kehrs­ver­bün­den gilt als zu­sätz­li­ches Kri­te­ri­um für eine Gra­tis­fahrt die Schul­ter­hö­he des Hun­des von ma­xi­mal 30 Zen­ti­me­tern.

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Auch die Ver­eini­gung Pro Bahn for­dert eine mas­si­ve Ver­ein­fa­chung der ÖV-Ta­ri­fe. «Vie­le ÖV-Be­nut­zer sind vom Ta­rif­wild­wuchs über­for­dert», sagt Ka­rin Blätt­ler, Prä­si­den­tin der In­ter­es­sens­ver­tre­tung für ÖV-Be­nut­zer. Blätt­ler reist zwei- bis drei­mal pro Wo­che über das Ver­bund­ge­biet ih­res Wohn­orts Lu­zern hin­aus, seit Jah­ren mit dem Ge­ne­ral­abon­ne­ment (GA). Um die Per­spek­ti­ve an­de­rer ÖV-Be­nut­zer ein­zu­neh­men, mach­te sie einen Selbst­ver­such und reis­te oh­ne GA her­um. «Nach einem hal­ben Jahr war ich der Ver­zweif­lung na­he und ha­be das GA wie­der ge­kauft, ob­wohl ich es nicht her­aus­schla­ge.»

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Booking.com für den ÖV?

Das BAV mahnt die Bran­che zur Eile. Falls sie sich nicht auf ein­fa­che­re Stan­dards und einen Ver­kaufs­ka­nal eini­ge, wer­de frü­her oder spä­ter der Druck von aus­sen kom­men. Es sei gut mög­lich, dass eine in­ter­na­tio­na­le Bu­chungs­platt­form in den Bil­lett­ver­kauf ein­stei­ge, warnt Ebin­ger. Die Bran­che, die im Ver­band öf­fent­li­cher Ver­kehr (VÖV) or­ga­ni­siert ist, hat die Ge­fahr er­kannt. Ab 2019 sol­len al­le Trans­port­un­ter­neh­men und Ver­bün­de auf das auf einer neu­en Da­ten­bank ge­spei­cher­te Bil­lett­sor­ti­ment Zu­griff ha­ben und es ver­kau­fen kön­nen. SBB, BLS und Ver­kehrs­ver­bün­de wie der ZVV stel­len eine Ver­ein­fa­chung des Sor­ti­ments in Aus­sicht, was aber noch Jah­re dau­ern dürf­te. «Die ÖV-Bran­che er­ar­bei­tet zur­zeit ge­mein­sam Lö­sun­gen für die künf­ti­ge Ta­rif- und Ver­triebs­land­schaft in der Schweiz», sagt Ste­fan Kauf­mann vom ZVV.

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Die Trans­port­bran­che ge­he falsch vor, kri­ti­siert Blätt­ler. Statt zu­erst das Ta­rif­sys­tem zu ver­ein­fa­chen, ver­su­che sie zu­erst eine Tic­ket­platt­form über die kom­pli­zier­te Ta­rif­land­schaft zu le­gen. Zu­dem dür­fe man nicht nur an Smart­pho­ne-Be­nut­zer den­ken, die ihr Bil­lett über eine App be­zahl­ten, son­dern auch an je­ne, die es am Auto­ma­ten lös­ten.

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Mobilitäts-App

Zuerst fahren, dann erst bezahlen

Eine ein­fa­che­re Be­nut­zung des ÖV ver­spre­chen Mo­bi­li­täts-Apps wie Lezz­go. Der Kun­de mel­det sich beim Ein­stei­gen ins öf­fent­li­che Ver­kehrs­mit­tel über die App an, oh­ne dass er ein Bil­lett kau­fen muss. Über die GPS-Funk­ti­on des Han­dys re­gi­striert das Sys­tem, wel­che Strec­ke ge­fah­ren wird. Beim Aus­stei­gen mel­det sich der Kun­de wie­der ab. Es kön­nen be­lie­big vie­le Fahr­ten ge­macht wer­den. Am Schluss des Ta­ges be­rech­net das Sys­tem die Fahr­ko­sten, Ver­gün­sti­gun­gen wie Ci­ty-Tic­kets wer­den be­rück­sich­tigt. Der Kun­de be­zahlt per Kre­dit­kar­te und nie mehr TOP als den Preis einer Ta­ges­kar­te. Zur­zeit funk­tio­niert die von der BLS ein­ge­führ­te Lezz­go-App in den Ver­bün­den Li­be­ro (Bern), Pas­se­par­tout (Zen­tral­schweiz), On­de ver­te (Neu­en­burg) und Fri­mo­bil (Frei­burg). Ab Ju­ni wird das Ge­biet ver­suchs­wei­se auf das gan­ze Mit­tel­land aus­ge­wei­tet. Lezz­go kann von Test­per­so­nen von der Waadt bis in die Ost­schweiz be­nutzt wer­den. Aus Sicht des BAV än­dern Apps wie Lezz­go nichts an der Not­wen­dig­keit, die Ta­ri­fe zu ver­ein­fa­chen. Für ÖV-Be­nüt­zer müs­se im Vor­aus er­sicht­lich sein, was eine Fahrt ko­ste.

(br)

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SBB — Bald gibts im Zug Pissoirs und Frauen-WCs. Das ist schön. Aber wichtiger ist bei den Zugtoiletten etwas anderes.

Hauptsache, das WC ist offen

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Thomas Widmer

Wenn in der Zei­tung Be­rich­te über die SBB kom­men, schei­det sich die Le­ser­schaft meist in zwei Grup­pen. Die einen Leu­te sind die, die nicht oder nur sel­ten Zug fah­ren. Die an­de­re Grup­pe — das sind die Häu­fig-Bahn­fah­rer. Die Be­trof­fenen. Sie den­ken sich beim Le­sen je­weils ih­ren Teil.

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Zum Bei­spiel ge­stern. Da ka­men in die­ser und in an­de­ren Zei­tun­gen Be­rich­te über den neu­en Hoch­ge­schwin­dig­keits­zug EC250 Gi­ru­no, den Her­stel­ler Stad­ler Rail am Don­ners­tag vor­ge­stellt hat­te. Er wird ab 2019 auf der Gott­hard­li­nie der SBB fah­ren — und bie­tet eine in­ter­es­san­te Neue­rung: Im Gi­ru­no wird es «WC-In­seln» ge­ben. Je­de In­sel be­steht aus einem WC für al­le, einem WC für Frau­en so­wie einem Pis­soir.

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Bis an­hin war die hie­si­ge Bahn ein Ort der Uni­sex-Toi­let­ten, der ge­schlech­ter­neu­tra­len WCs, so ist man sich das seit Jahr­zehn­ten ge­wohnt. Aber es mag durch­aus sein, dass im Gi­ru­no ein­tritt, was SBB-Chef An­dre­as Mey­er an be­sag­ter Prä­sen­ta­ti­on ver­mu­te­te: dass mit der kom­men­den Ge­schlech­ter­tei­lung mehr Sau­ber­keit ein­her­ge­hen könn­te. Fährt der Zug grad über ein Wei­chen­feld, ist die Chan­ce beim Pis­soir je­den­falls grös­ser als bei der klas­si­schen Toi­let­te, dass der Steh­pink­ler trifft.

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Das so­ge­nann­te Drit­te Ge­schlecht, das in der letz­ten Zeit in die Me­di­en drängt, soll­te mit den WC-In­seln auch zu­frie­den sein. Den Leu­ten, die sich we­der als Mann noch als Frau füh­len, ist mit der neu­tra­len Ka­bi­ne für al­le Ge­nü­ge ge­tan. Aus­ge­grenzt wird nie­mand.

Ist so­mit al­les gut? Hier schei­det sich nun eben die Le­ser­schaft. Der Häu­fig-Bahn­fah­rer als Skep­ti­ker der Pra­xis denkt an die Bahn­rei­sen der letz­ten Zeit. Ge­fühlt je­des drit­te Mal sass er in einem Wag­gon mit einem WC, das ge­sperrt war; ein Kle­ber an der Tür zeig­te es an. Die Nicht­ver­füg­bar­keit TOP der Toi­let­te reich­te, um sei­nen Harn­drang zu sti­mu­lie­ren, so­dass eine auf­wen­di­ge Tra­ver­se in den näch­sten Wag­gon des voll be­setz­ten Dop­pel­stöc­kers nö­tig wur­de.

Die Fra­ge ist aus der War­te des Zug­pas­sa­giers nicht, wel­che Art WC die SBB bie­ten. Die Fra­ge ist: Wer­den die WCs re­gel­mäs­sig gew­ar­tet — sind sie auch wirk­lich of­fen?

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