Ein schönes Geschenk hinterliess Merz bei seinem Abtritt letzten Oktober.
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Er sagte: «Es ist Zeit, etwas für die kleinen Unternehmen zu tun» — für Maler, Apotheker, Garagisten, Floristen, Metzger und, und, und. Er sagte: Es gäbe «keine Steuergeschenke für Grossaktionäre» oder für Aktionäre von «Nestlé, Novartis, ABB». Und er sagte: Die Steuerausfälle in der Dividendenbesteuerung betrügen «etwa 56 Millionen Franken».
Das sagte FDP-Bundesrat Hans-Rudolf Merz vor der Abstimmung zur Unternehmenssteuerreform 2008. Er gewann sie mit 50,5 Prozent.
Heute stellt sich heraus: Die Aktionäre von Credit Suisse, Zurich, ABB, Holcim und, und, und verdienen an der Reform Milliarden. Die Schätzungen reichen von 10 Milliarden Franken (NZZ) bis über 30 Milliarden (SP). Also das 200- bis 600-Fache dessen, was Maler, Apotheker und, und, und im Jahr profitieren.
Schuld ist ein Systemwechsel in der Dividendenbesteuerung, bei der Konzerne die seit 1997 zurückbehaltenen Gewinne steuerfrei an ihre Aktionäre verteilen dürfen.
Ein Passus, der in seiner Komplexität vor der Abstimmung nur drei Interessengruppen bekannt war: den Anwälten der Wirtschaftsorganisationen, die ihn bei der Vernehmlassung angeregt hatten. Dann einigen Spezialisten im Finanzdepartement. Und Bundesrat Merz selber.
Dieser sagte 2008 zur steuerlichen Auswirkung beim Systemwechsel: «Es ist keine Schätzung möglich.» Es blieb die einzige Wahrheit, die Merz sagte. Denn tatsächlich bleibt unklar, wie gross die Ausfälle werden: Es gibt keine Erfahrungswerte. Man wird es erst in rund zehn Jahren, im Nachhinein, wirklich wissen. Wenn die Konzerne die Gesetzeslücke ausgeschöpft haben.
Paradoxerweise verhindert genau diese Unklarheit das Stopfen des Steuerlochs. Die Kantone lavieren, die Steuerverwaltung, die an dem Gesetz (aus Pfusch? aus kaltblütigem Betrug von Volk und Parlament?) schuld war, gibt Entwarnung: Die Ausfälle würden im einstelligen Milliardenbereich bleiben. Darauf beruft sich die Merz-Nachfolgerin Eveline Widmer-Schlumpf: Der Bundesrat müsse «nichts» tun, sagt sie. Denn das neue Gesetz sei «systemgerecht».
So sieht also die Gerechtigkeit im Steuersystem aus: Bekommen die kleinen Firmen Millionen, bekommen die grossen Aktionäre Milliarden.
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Die steuerfreien Dividenden kommen die öffentliche Hand deutlich teurer zu stehen als von der Steuerverwaltung veranschlagt: Laut TA-Recherchen drohen in den nächsten Jahren insgesamt bis zu 47 Milliarden Franken Steuerausfälle — davon 17 bis 26 Milliarden bei der Verrechnungssteuer, nochmals bis zu 21 Milliarden bei der Einkommenssteuer. Die möglichen Einbussen bei Bund, Kantonen und Gemeinden lassen sich herleiten aus 700 Milliarden Franken angemeldeten Kapitalreserven, die Firmen steuerbefreit ausschütten können.
Angesichts der erwarteten Zunahme der Ausfälle wird die Steuerfrage im Parlament wieder zum Thema. So kommen aus den Reihen von SP und CVP zwei neue Vorstösse, um die steuerfreien Ausschüttungen einzuschränken — und das, obwohl sich der Nationalrat erst im Dezember 2011 gegen eine solche Korrektur der Unternehmenssteuerreform Ⅱ aussprach. Laut CVP-Ständerat Pirmin Bischof, der diese Woche einen entsprechenden Vorstoss einreicht, ist die politische Aufarbeitung der Kontroverse indes zwingend: Wolle man die Unternehmenssteuerreform Ⅲ realisieren, gelinge das nur, wenn man die Missstände der letzten Reform glaubwürdig beseitige.
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Aktionäre lieben steuerfreie Ausschüttungen — allein jene der Zürich erhalten dieses Jahr 2,5 Milliarden Franken.
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Steuergeschenke an die Aktionäre sind ein Renner. Bis jetzt haben die Unternehmen beim Bund 700 Milliarden Franken Kapitalreserven angemeldet, die sie über die nächsten Jahre steuerfrei an die Aktionäre auszahlen können. Dieser Betrag dürfte nochmals kräftig ansteigen, da die Firmen noch bis Ende Juli Zeit haben, ihre bis 1997 zurückreichenden Kapitalreserven zu melden.
Ermöglicht hat das die seinerzeit von Hans-Rudolf Merz durchgedrückte Unternehmenssteuerreform Ⅱ, die seit Anfang 2011 Kapitalrückzahlungen für Aktionäre steuerfrei macht. Der drohende Steuerausfall, der bei der Verrechnungssteuer und bei der Einkommenssteuer anfällt, ist immens.
Bund rechnet Problem klein
Das Ausmass der Steuerschäden hänge ab von der «Höhe der effektiv getätigten Rückzahlungen», sagt ein Sprecher der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Das Amt sagt, der Bundesrat sei gegen eine Revision. Die steuerfreien Ausschüttungen seien korrekt, sachlich gerechtfertigt und machten den Standort Schweiz attraktiv. Die Steuerverwaltung bleibt bei Schätzungen, die noch aus dem vergangenen Jahr stammen: Sie rechnet bei der Verrechnungssteuer mit 1,2 Milliarden Einbussen für 2011 und mit 400 bis 600 Millionen Franken Einbussen bei der Einkommens- und der Verrechnungssteuer für jedes weitere Jahr.
Die Aufteilung auf einzelne Jahre, wie sie der Bund vornimmt, lenkt indes vom ungleich grösseren Gesamtschaden von 47 Milliarden Franken ab, der durch die steuerfreie Ausschüttung von 700 oder mehr Milliarden Franken bevorsteht. Denn es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Aktionäre auf das von Merz gemachte Steuergeschenk verzichten wollen — entsprechend gross ist der Druck auf die Unternehmen, angemeldete Kapitalreserven steuerfrei auszuschütten.
Finanzpolitiker sind alarmiert
Dass die gemeldeten 700 Milliarden tatsächlich fliessen — darauf deuten Erfahrungen mit steuerfreien Nennwertrückzahlungen an die Aktionäre hin, die in den 90er-Jahren beliebt wurden. Die Unternehmen machten davon so lange Gebrauch, bis das Steuersparpotenzial ausgeschöpft war.
In Bern zeigen sich Finanzpolitiker alarmiert. «Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, dass das Kapitaleinlageprinzip zu Ausfällen von 200 bis 300 Millionen Franken im Jahr führt», sagt CVP-Ständerat Pirmin Bischof. Jetzt geht auch er von deutlich höheren Steuereinbussen aus. SP-Nationalrätin Margrit Kiener Nellen sagt, das wahre Ausmass der Ausfälle sei noch immer nicht bekannt: «Wir rechnen damit, dass die Zahl der angemeldeten Kapitalreserven für die steuerfreie Ausschüttung bis zum Ablauf der Anmeldefrist noch einmal massiv steigen wird, da viele Abschlüsse von Unternehmen erst bevorstehen.» Deshalb sei es nötig, das Loch einzugrenzen, das die Ausfälle auf allen Staatsebenen in die Kassen schlagen werden.
Die Parlamentarier nehmen einen neuen Anlauf, um die Folgen der Merz-Reform zu korrigieren: Sie reichen noch diese Woche entsprechende Vorstösse ein. Und dies, obwohl es noch keine vier Monate her ist, seit zwei Motionen mit demselben Inhalt — einer davon stammte von Bischof selbst — im Nationalrat eine Mehrheit knapp verpassten. «Weil die Anzahl angemeldeter Kapitalreserven in der Zwischenzeit noch einmal deutlich gestiegen ist, drängt sich ein neuerlicher Vorstoss auf», erklärt Bischof. Er verlangt, dass Unternehmen Kapitalreserven nur noch dann steuerfrei ausschütten können, wenn bei ihnen keine ausschüttungsfähigen Gewinnreserven mehr vorhanden sind.
Andere Länder sind strenger
Solche Regeln bestehen bereits heute in einigen grossen EU-Ländern. Bischof würde es vorziehen, dass der Bundesrat von sich aus aktiv würde. Nach dem abschlägigen Entscheid des Nationalrats jedoch dürfte die Regierung davon absehen — ausser das Parlament stimmt nun den neuen Vorstössen zu einer Korrektur der umstrittenen Steuerreform zu. Das bestätigt man auch im Finanzdepartement: «Im Moment ist das Vorhaben für das Departement nicht von erster Priorität», sagt ein Sprecher. Gut unterrichteten Quellen zufolge verfügt Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf über einen entsprechenden Gesetzesentwurf, den sie bei Bedarf aus der Schublade hervorholen kann.
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Erst sprach man von 85 Millionen Franken jährlich. Dann schätzte man den Steuerausfall gesamthaft auf einen «einstelligen Milliardenbetrag». Dann auf 8 Milliarden. Laut neuesten Schätzungen sind es 47 Milliarden.
Dies sind die Zahlen im wahrscheinlich grössten und sicher teuersten Skandal in der Geschichte der Schweiz: der Unternehmenssteuerreform Ⅱ. Anfangs sah alles nach einer weitgehend symbolischen Vorlage aus. Im Abstimmungskampf 2008 sagte der damalige Finanzminister Hans-Rudolf Merz: «Es ist Zeit, etwas für die kleinen Unternehmen zu tun — für Maler, Apotheker, Garagisten, Floristen, Metzger und, und, und.»
Der Abstimmungskampf war hart. Am Ende nahm das Volk die Vorlage äusserst knapp an: mit 50,5 Prozent Ja-Stimmen. Das wichtigste Argument von Hans-Rudolf Merz waren die geringen Kosten. Und dass er diesmal etwas zur Entlastung der kleinen Leute tue. Er sagte: «Keine Steuergeschenke für Grossaktionäre.»
Niemand hat es gemerkt
Doch genau darum ging es. Im Kleingedruckten der Reform fand sich eine Systemänderung im Steuerrecht, die nur die Steueranwälte verstanden. Aber nicht die Politiker. Sie erlaubte es Firmen, Grossaktionären Dividenden steuerfrei auszuschütten, solange sie aus den Kapitalreserven bezahlt wurden.
Bis heute ist nicht klar, ob Merz wusste, was er tat. Es passte in seine Politik, die Steuerreduktionen für Vermögende förderte. Und Sparprogramme für den Rest.
Auf jeden Fall schuf sein Gesetz ein gigantisches Steuerschlupfloch. Eines, das den Bund auf Jahre hinaus mindestens 400 bis 600 Millionen Einnahmen im Jahr kostet.
Zwei SP-Parlamentarier klagten vor Bundesgericht. Dieses kritisierte letzten Dezember den Bundesrat so hart wie noch nie: Die Regierung habe die Stimmbürger «hinters Licht geführt». Von einer Wiederholung der Abstimmung sah das Gericht aber ab — aus Gründen der Rechtssicherheit.
Einen Tag nach dem Urteil stimmte der Nationalrat ab. Er hatte die Chance, das Loch wenigstens teilweise zu schliessen. Die bürgerliche Mehrheit von FDP, SVP und Teilen der CVP, BDP und Grünliberalen lehnten jede Korrektur ab. Egal, was die Mehrheit ihrer Wähler dazu sagte.
Stimmt die neueste Schätzung, so heisst das: Für jeden Hunderter, den kleine und mittlere Unternehmen jetzt pro Jahr weniger Steuern zahlen, sparen die Grossaktionäre 55'294 Franken. Für kleine Geschäftsleute war die Unternehmenssteuerreform das schlechteste Geschäft ihres Lebens.
Noch mehr für sehr Reiche
Das passt durchaus in den Trend der Schweizer Politik: In den Boomjahren von 1997 bis 2007 stiegen die kleinen und mittleren Saläre nur um 4 Prozent; die obersten um 20. Die 4 Prozent Gewinn wurden jedoch von den Steuern weggefressen. Zwar wurden Steuern gesenkt: aber nur die direkten, die vor allem hohe Einkommen betreffen. Dafür stiegen die indirekten Steuern, Gebühren und Krankenkassenprämien. Also die, die für alle gleich teuer sind.
Das Resultat? Das reichste Hundertstel steigerte seinen Anteil am Gesamtvermögen um 13 Prozent. Alle anderen Schichten verloren. Drei Viertel des Vermögens gehören heute den obersten 10 Prozent.
Empörter Minister Merz
Bundesrat Hans-Rudolf Merz trat im Dezember 2010 zurück. Etwas später gab er ein Interview. Er fand die Vorwürfe wegen der Unternehmenssteuerreform «abscheulich». Er habe immer «transparent informiert».
Nun, nach den neuesten Schätzungen der Steuerausfälle, wollen der CVP-Mann Pirmin Bischof und die SP-Frau Margret Kiener Nellen die Sache noch einmal in den Nationalrat bringen. Wer letzten Herbst FDP, CVP, SVP, BDP oder GLP gewählt hat und nicht Multimillionär, sondern Maler, Apotheker, Garagist, Florist oder Metzger ist, sollte seine Parlamentarier dabei im Auge behalten. Auf wessen Seite stehen sie?
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