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Der Whistleblower, der für seine Courage bestraft wurde

Serge Gaillard, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, verdächtigt einen Whistleblower, das Amtsgeheimnis verletzt zu haben. Doch zu Gaillards Anschuldigungen gibt es grosse Fragezeichen.

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Ein Whistleblower zeigte Missstände am Sitz der Zentralen Ausgleichskasse in Genf auf. Foto: Laurent Guiraud (Keystone)
Philippe Reichen, Genf

Den 14. Mai 2014 wird Jean Som­meil (Na­me ge­än­dert) nie ver­ges­sen. Kurz vor 8 Uhr klin­gelt es an sei­ner Tür. Som­meil, Ab­tei­lungs­lei­ter bei der Zen­tra­len Aus­gleichs­kas­se (ZAS) in Genf, steht einer Grup­pe von Mit­ar­bei­tern der Bun­des­kri­mi­nal­po­li­zei ge­gen­über. Er ste­he im Ver­dacht, das Amts­ge­heim­nis ver­letzt zu ha­ben, er­öff­net ihm ein Be­am­ter. Som­meil weist den Vor­wurf ve­he­ment zu­rück. Doch die Po­li­zis­ten durch­su­chen sein Haus, sein Auto, sein Bü­ro, neh­men Lap­tops, Mo­bil­te­le­fo­ne und Do­ku­men­te mit. Glei­chen­tags wird er in Lau­san­ne von der Bun­des­an­walt­schaft (BA) ein­ver­nom­men. Die kon­kre­ten Vor­wür­fe kennt er aber erst Wo­chen spä­ter.

Serge Gail­lard, Di­rek­tor der Eid­ge­nös­si­schen Fi­nanz­ver­wal­tung (EFV), hat­te am 31. März 2014 bei der BA An­zei­ge we­gen Amts­ge­heim­nis­ver­let­zung er­stat­tet. Dar­in ging es um Ar­ti­kel, die im TA er­schie­nen sind. Die­se ent­hüll­ten: Bei der ZAS, der wich­tig­sten Zahl­stel­le für AHV-Ren­ten, herrscht ein gros­ses Cha­os. Mil­lio­nen­teu­re IT-Pro­jek­te wur­den sys­te­ma­tisch oh­ne Aus­schrei­bung ver­ge­ben; IT-Pro­jek­te mit Pomp an­ge­kün­digt und spä­ter er­geb­nis­los ab­ge­bro­chen; das ZAS-Ma­na­ge­ment heu­er­te teu­re ex­ter­ne Fach­kräf­te an, die we­nig zu­stan­de brach­ten; zu­dem stand die ZAS-Di­rek­to­rin im Ver­dacht, sich an der Spe­sen­kas­se be­dient und mit un­nö­ti­gen Dienst­rei­sen Geld ver­prasst zu ha­ben. Im Herbst 2013 muss­te die Di­rek­to­rin ge­hen.

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Zeugen sind verunsichert

Gaillard woll­te mit der An­zei­ge wohl wei­te­re Ent­hül­lun­gen ver­hin­dern. Der BA schrieb er: «Die­se Ar­ti­kel und ent­spre­chen­de Jour­na­lis­ten­fra­gen be­le­gen, dass aus dem Be­reich der ZAS lau­fend, sys­te­misch und un­be­fugt in­ter­ne In­for­ma­tio­nen an die Pres­se wei­ter­ge­lei­tet wer­den.» Gail­lard for­der­te: «Die Tä­ter» müss­ten «straf­recht­lich zur Ver­ant­wor­tung ge­zo­gen wer­den». Die ZAS hat­te da­für elf dic­ke Dos­siers an­ge­fer­tigt, ein Dos­sier pro Zei­tungs­ar­ti­kel. Am En­de je­des Ak­ten­bün­dels stand: «Es feh­len kon­kre­te Hin­wei­se auf die Tä­ter­schaft.» Aber Gail­lard teil­te der BA einen Ver­dacht mit: «Als Tä­ter oder Mit­tä­ter nicht aus­zu­schlies­sen ist Herr Jean Som­meil.» Die­ser ha­be sich «am 21. März 2014 oh­ne Be­grün­dung einem Füh­rungs­ge­spräch ent­zo­gen». Glei­chen­tags hät­ten ZAS-Mit­ar­bei­ter be­obach­tet, wie er «wäh­rend län­ge­rer Zeit zahl­rei­che Do­ku­men­te aus­druck­te». Seit dem 24. März 2014 sei er krank­ge­schrie­ben.

Nachgefragt

«Das gegenseitige Vertrauen begann zu leiden»

Mit Serge Gaillard sprach Daniel Foppa

Sie schrei­ben in Ih­rer An­zei­ge: «Zur­zeit ver­fü­gen wir über kei­ne ab­schlies­sen­den Hin­wei­se über die Tä­ter­schaft»: Am En­de aber heisst es: «Als Tä­ter oder Mit­tä­ter nicht aus­zu­schlies­sen ist Jean Som­meil (Na­me ge­än­dert)». Wa­rum?

Nach­dem mehr­mals in­ter­ne und ver­trau­li­che Do­ku­men­te der Pres­se zu­ge­spielt wor­den wa­ren, stell­te die Ge­schäfts­lei­tung der ZAS den An­trag, Straf­an­zei­ge zu er­he­ben. Das ge­gen­sei­ti­ge Ver­trau­en in der ZAS be­gann un­ter den In­dis­kre­tio­nen zu lei­den. Die An­zei­ge rich­te­te sich nicht ge­gen ein­zel­ne Per­so­nen. Ver­dachts­mo­men­te wur­den aber vor­schrifts­ge­mäss der An­zei­ge bei­ge­legt.

Sie richten den Fokus sehr wohl auf Herrn Sommeil.

Die Ver­dachts­mo­men­te der ZAS be­tra­fen die­se Per­son. Für mich gilt je­doch auch hier die Un­schulds­ver­mu­tung.

Als Haupt­ar­gu­ment brin­gen Sie vor, Som­meil sei beim Aus­druc­ken be­obach­tet wor­den. Zwei Zeu­gen be­strit­ten in Ein­ver­nah­men bei der Bun­des­an­walt­schaft je­doch, Som­meil je beim Aus­druc­ken ge­se­hen zu ha­ben.

Laut mei­nen In­for­ma­tio­nen sa­gen die Zeu­gen, dass zum frag­li­chen Zeit­punkt Do­ku­men­te vom Ac­count der ge­nann­ten Per­son aus­ge­druckt wur­den. Es ist nun Sa­che der Un­ter­su­chungs­be­hör­den, die Wahr­heit der Aus­sa­gen zu über­prü­fen.

Laut Jean Som­meil hat er Sie spä­tes­tens am 3. Ok­to­ber 2013 in­for­miert, dass er als Whist­le­blo­wer zur EFK ging. Kön­nen Sie das be­stä­ti­gen?

Am 3. Ok­to­ber 2013 ha­be ich mit der be­trof­fe­nen Per­son über ein IT-Pro­jekt dis­ku­tiert, in des­sen Rah­men sen­sib­le Da­ten ent­ge­gen den Bun­des­vor­schrif­ten auf einen Ser­ver aus­ser­halb der ZAS um­ge­lei­tet wur­den. Die Per­son war als Mit­glied der Ge­schäfts­lei­tung der ZAS für das Pro­jekt ver­ant­wort­lich. Es ist aber mög­lich, dass wir auch über an­de­re The­men ge­spro­chen ha­ben. Die­se stan­den für mich aber nicht im Vor­der­grund.

Sommeil hat Sie und Mit­ar­bei­ter der Fi­nanz­ver­wal­tung über Miss­stän­de bei der ZAS in­for­miert, die da­nach gröss­ten­teils be­ho­ben wer­den konn­ten. Ge­bührt Whist­le­blo­wern nicht be­son­de­rer Schutz?

Whistle­blo­wer müs­sen ge­schützt sein. Sie tra­gen da­zu bei, Miss­stän­de auf­zu­dec­ken. Ich ha­be mich in Genf wie­der­holt da­für ein­ge­setzt, dass Mit­ar­bei­ten­de nicht be­nach­tei­ligt wer­den, nach­dem sie auf Ver­feh­lun­gen und Un­re­gel­mäs­sig­kei­ten hin­ge­wie­sen ha­ben. Das gilt auch in die­sem Fall: Ob­schon im er­wähn­ten IT-Pro­jekt eini­ges schief­ge­lau­fen ist, ha­be ich mich per­sön­lich da­für en­ga­giert, dass sich die Zu­sam­men­ar­beit zwi­schen dem be­trof­fe­nen Mit­ar­bei­ter und der Di­rek­to­rin und an­de­ren Mit­glie­dern der Ge­schäfts­lei­tung nor­ma­li­siert.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

Serge Gaillard Serge Gaillard
Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung

Die BA liess sich bei den Er­mitt­lun­gen Zeit. Erst am 8. und 9. Ok­to­ber 2014 bot sie zwei Zeu­gen aus der ZAS zur Ein­ver­nah­me auf. Der IT-Si­cher­heits­chef und ein IT-Si­cher­heits­ex­per­te sol­len Som­meil beim Aus­druc­ken ge­se­hen ha­ben. Doch der Si­cher­heits­ex­per­te sag­te im Ein­ver­nah­me­pro­to­koll: «Per­sön­lich ha­be ich Som­meil nie aus­druc­ken se­hen. Ge­mäss mei­nem Kennt­nis­stand hat in der ZAS nie­mand Som­meil beim Aus­druc­ken ge­se­hen.» Auch der Si­cher­heits­chef gab zu Pro­to­koll: «Ich kann nicht sa­gen, wo­her die­se In­for­ma­ti­on stammt.» Sie hät­ten zwar re­cher­chiert, dass Som­meil an die­sem Tag un­ge­wöhn­lich vie­le Do­ku­men­te aus­druck­te. Aber da­mit be­stün­de «über­haupt kei­ne Ge­wiss­heit», ob Som­meil Do­ku­men­te wei­ter­ge­ge­ben ha­be.

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«Polizei auf den Hals gehetzt»

Diese Ein­schät­zung er­staunt kaum, weil der TA zum Zeit­punkt, als Som­meil Do­ku­men­te aus­druck­te, längst über die Vor­komm­nis­se bei der ZAS be­rich­tet hat­te. Som­meil selbst teil­te dem TA via An­walt mit, er sei an die­sem Tag, an­ders als in der An­zei­ge be­haup­tet, nicht zu einem Füh­rungs­ge­spräch zi­tiert wor­den.

Die Vor­wür­fe schei­nen sich seit der Zeu­gen­be­fra­gung der BA denn auch in Nichts auf­zu­lö­sen. Doch wie kam EFV-Di­rek­tor Gail­lard über­haupt da­zu, ge­gen Som­meil vor­zu­ge­hen? Er be­schritt mit der An­zei­ge je­nen Weg, den die ZAS-Di­rek­ti­on ein­ge­schla­gen hat­te. Die­ser wa­ren ab Mit­te 2013 vie­le Mit­tel recht, um Som­meil los­zu­wer­den. An­walt Eric Mau­gué sagt, sein Klient ha­be sei­ne Kri­tik am «herr­schen­den Sys­tem» zu­nächst in­tern de­po­niert. Weil sich nichts än­der­te und kri­ti­sche Be­rich­te der In­ter­nen Kon­troll­stel­le nie zur Eid­ge­nös­si­schen Fi­nanz­kon­trol­le (EFK) ge­lang­ten, wand­te er sich En­de 2012 di­rekt an die EFK — wie es das Bun­des­per­so­nal­ge­setz vor­sieht.

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«Bei der EFK dank­te man mei­nem Man­dan­ten für die wert­vol­len In­for­ma­tio­nen», sagt Mau­gué. Die ZAS-Füh­rung ahn­te nichts da­von. Man war da­mit be­schäf­tigt, den auf­mü­pfi­gen Ab­tei­lungs­lei­ter zu dis­zi­pli­nie­ren. Zum sel­ben Schluss kommt das Ma­ga­zin des Bun­des­per­so­nal­ver­bands, das den Fall in der ak­tu­el­len Aus­ga­be the­ma­ti­siert. Dort heisst es: «Der Whist­le­blo­wer wur­de bei der ZAS kalt­ge­stellt und ist mitt­ler­wei­le krank­ge­schrie­ben. Schlim­mer noch: Statt ihm zu dan­ken, hat ihm die Eid­ge­nös­si­sche Fi­nanz­ver­wal­tung die Po­li­zei auf den Hals ge­hetzt.»

Sommeil, der 2002 in die ZAS ein­ge­tre­ten war und bis 2012 bes­te Leis­tungs­no­ten be­kam, muss­te ak­zep­tie­ren, dass man of­fe­ne Stel­len auf sei­ner Ab­tei­lung plötz­lich nicht mehr be­setz­te. Um trotz­dem al­le Ar­bei­ten zu er­le­di­gen, schuf­te­te er ge­mäss An­walt Mau­gué bis zur völ­li­gen Er­schö­pfung. Im Sep­tem­ber 2013 war er aus­ge­pumpt und ver­spür­te star­ke Schmer­zen in der Schul­ter. Sein Arzt schrieb ihn zu 50 Pro­zent ar­beits­un­fä­hig. Die ZAS-Per­so­nal­che­fin schick­te den Ab­tei­lungs­lei­ter zur Be­gut­ach­tung zu einem Ver­trau­ens­arzt des Bun­des. Die­sem teil­te sie mit, Som­meil ha­be «stän­dig Kon­flik­te mit Kol­le­gen» und sei «de­mo­ti­viert». Der Ver­trau­ens­arzt aber schütz­te Som­meil und stell­te fest, er sei «gros­sem Stress» aus­ge­setzt. Die Per­so­nal­che­fin ver­schärf­te dar­auf den Ton. In einem Brief an den Ver­trau­ens­arzt schrieb sie, Som­meil sei seit 2011 nicht mehr fä­hig, eine Ab­tei­lung zu füh­ren. Die­se Ein­schät­zung er­staunt, hat­te ihm die ZAS-Füh­rung doch 2012 we­gen der Er­kran­kung eines Ka­der­mit­glieds eine neue Stel­le mit mehr Füh­rungs­ver­ant­wor­tung zu­ge­wie­Sen.

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Als EFV-Di­rek­tor Gail­lard am 31. März 2014 An­zei­ge er­stat­te­te, dürf­te er seit lan­gem ge­wusst ha­ben, dass Som­meil nebst ihm und sei­nen eng­sten Mit­ar­bei­tern auch die EFK in­for­miert hat­te. Som­meil teil­te dem TA via sei­nen An­walt mit, er ha­be Gail­lard spä­tes­tens am 3. Ok­to­ber 2013 in­for­miert, dass er als Whist­le­blo­wer an die EFK ge­langt sei.

Erfolg vor Gericht

Sommeil ist seit dem 24. März 2014 zu 100 Pro­zent krank­ge­schrie­ben. An einem Ge­spräch vom 25. März mit Gail­lard, der ZAS-Füh­rung und EFV-Per­so­nal­chef An­dre­as Ho­stett­ler mit dem Ziel «Wie­der­her­stel­lung einer kon­struk­ti­ven Kom­mu­ni­ka­ti­on» nahm er nicht mehr teil. Bei die­ser Ge­le­gen­heit wä­re ihm wohl eine von lan­ger Hand vor­be­rei­te­te Ver­war­nung über­ge­ben wor­den. Sie lan­de­te schliess­lich bei An­walt Mau­gué.

Kurz vor Weih­nach­ten er­reich­te Som­meil vor dem Bun­des­straf­ge­richt in Bel­lin­zo­na einen Er­folg. Das Ge­richt hob die Ver­fü­gung der BA für die Be­schlag­nah­mung von Som­meils Pri­vat­ge­gen­stän­den auf. Be­reits im Au­gust 2014 hat­te der An­ge­schul­dig­te zu sei­nem Selbst­schutz eine Ge­gen­kla­ge ge­gen EFV-Di­rek­tor Gail­lard ein­ge­reicht. Ob die­se Wir­kung zeigt, wird sich wei­sen. Sie wird sei­tens BA von je­nem Bun­des­an­walt be­treut, der sich um Gail­lards An­zei­ge we­gen Amts­ge­heim­nis­ver­let­zung küm­mert.

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