TAGES ANZEIGER

Hohe Risiken bei den AHV-Zahlungen bleiben

Beim Rentenzahlungssystem des Bundes ist ein Kollaps nicht auszuschliessen.
Obwohl ein neues entwickelt wurde, bleibt das alte vorerst in Betrieb.

Philippe Reichen
Lausanne

Beim Sys­tem für die Über­wei­sung von AHV- und IV-Ren­ten droht ein Aus­fall. Die­ses Ri­si­ko sieht die Eid­ge­nös­si­sche Fi­nanz­kon­trol­le (EFK) in ih­rem Be­richt über die In­for­ma­tik­ab­tei­lung der Zen­tra­len Aus­gleichs­stel­le (ZAS), die für die Zah­lun­gen ver­ant­wort­lich ist. Da­bei könn­te das Pro­blem längst ge­löst sein. Ein Waadt­län­der IT-Un­ter­neh­mer hat­te im Som­mer 2013 an­stel­le der al­ten, pan­nen­an­fäl­li­gen Zah­lungs­me­tho­de aus den 80er-Jah­ren ein neu­es Zah­lungs­sys­tem fer­tig pro­gram­miert. Für die ZAS, die wich­tig­ste Ren­ten­zahl­stel­le des Bun­des, bot sich die Chan­ce, die al­ten Schwarz­weiss­bild­schir­me end­lich mit mo­der­nen Farb­bild­schir­men er­set­zen zu kön­nen. Die neue App­li­ka­ti­on war be­reits in der Test­pha­se. Die ins Pro­jekt in­vol­vier­te Bank Post­fi­nan­ce zeig­te sich zu­frie­den. Das Geld kam bei den AHV-Be­zü­gern pünkt­lich an, der Durch­bruch schien ge­schafft.

Doch An­fang Sep­tem­ber be­schlich die ZAS-Chef­eta­ge plötz­lich das Ge­fühl, der IT-Un­ter­neh­mer ha­be sen­sib­le Da­ten ent­wen­det, zu­mal der Ser­ver nicht bei der ZAS, son­dern in sei­nem Bü­ro stand. Die Di­rek­ti­on schal­te­te die Eid­ge­nös­si­sche Fi­nanz­ver­wal­tung (EFV) ein, wel­che die ZAS be­auf­sich­tigt. Die­se schick­te dem IT-Un­ter­neh­mer am 7. Sep­tem­ber 2013 die Bun­des­po­li­zei (Fedpol) ins Haus (TA vom 28. März). Die zi­vil ge­klei­de­ten, aber be­waff­ne­ten Po­li­zis­ten be­schlag­nahm­ten den Test­ser­ver und fuh­ren den Mann zur ZAS nach Genf, wo sie ihn im Bei­sein der Di­rek­ti­on wäh­rend Stun­den be­frag­ten. Der Sit­zung zu­ge­schal­tet war aus Bern auch EFV-Di­rek­tor Ser­ge Gail­lard.

«Kaum nachvollziehbar»

Harsche Kritik der Finanz­kontrolle

(phr)

Die Zen­tra­le Aus­gleichs­stel­le (ZAS) in Genf über­weist pro Mo­nat eine hal­be Mil­liar­de Fran­ken an bei­na­he 900'000 AHV-Emp­fän­ger in der gan­zen Welt. Doch das Ren­ten­zah­lungs­sys­tem be­un­ru­higt die Eid­ge­nös­si­sche Fi­nanz­kon­trol­le (EFK). In ih­rem Be­richt über die In­for­ma­tik­ab­tei­lung der ZAS vom 3.Ju­li schreibt die EFK, «die ge­sam­te sys­te­mi­sche Ab­wick­lung der Ren­ten­zah­lun­gen ist kaum nach­voll­zieh­bar». Kon­trol­len könn­ten «nur ru­di­men­tär durch­ge­führt wer­den». Zu­dem wür­den Zah­lungs­da­ten auf ver­schie­de­nen Sys­te­men ver­ar­bei­tet und ge­la­gert, die den «bun­des­wei­ten Si­cher­heits­an­for­de­run­gen nicht ge­nü­gen». Die EFK for­dert: «Die Sys­te­me für die Ab­wick­lung der Zah­lun­gen müs­sen mo­der­ni­siert wer­den.»

Der IT-Un­ter­neh­mer (Name der Re­dak­ti­on be­kannt) sagt heu­te: «Die Ver­ant­wort­li­chen in der ZAS wa­ren in­for­miert und ein­ver­stan­den, dass der Test­ser­ver mit Da­ten von Ren­ten­be­zü­gern in mei­nem Bü­ro stand, be­han­del­ten mich aber wie einen Kri­mi­nel­len.»

Die Vor­wür­fe ge­gen ihn lös­ten sich in Luft auf. Das Pro­blem lag bei der ZAS selbst, was die EFK und die Un­ter­neh­mens­be­ra­tungs­fir­ma Ernst & Young in ent­spre­chen­den Be­rich­ten be­stä­tig­ten. So­wohl Ser­ge Gail­lard als auch die Fed­pol be­to­nen: Ge­gen den IT-Un­ter­neh­mer ge­be es «kei­ne An­schul­di­gun­gen».

Zurück auf Feld eins

Der Pro­gram­mie­rer hat­te den Auf­trag be­kom­men, weil die 70-köp­fi­ge IT-Ab­tei­lung der ZAS bei der Er­neue­rung des Über­wei­sungs­sys­tems ge­schei­tert war. Doch statt sich bei ihm für die Un­an­nehm­lich­kei­ten zu ent­schul­di­gen und die zu gün­sti­gen Kon­di­tio­nen (un­ter 150'000 Fran­ken) pro­gram­mier­te An­wen­dung wie­der zum Funk­tio­nie­ren zu brin­gen, be­schloss die ZAS-Di­rek­ti­on, das Pro­jekt von Grund auf neu zu star­ten. Dem TA liegt das ent­spre­chen­de ZAS-in­ter­ne «In­for­ma­tik-Man­dat» für die Neu­ent­wick­lung vor. Der Auf­trag ging am 9. Ok­to­ber 2013 an die In­for­ma­tik­ab­tei­lung, nur we­ni­ge Wo­chen nach der Haus­durch­su­chung und ob­wohl nicht klar war, ob man dem IT-Un­ter­neh­mer über­haupt et­was vor­wer­fen kann.

Ob EFV-Di­rek­tor Gail­lard vom Neu­start wuss­te, ist of­fen. Er ver­sicher­te ge­gen­über dem TA mehr­fach, der IT-Un­ter­neh­mer ha­be sei­ne Ar­beit nicht um­sonst ge­macht, man wür­de ver­su­chen, die Er­geb­nis­se zu nut­zen. Doch das Ge­gen­teil scheint der Fall.

Mit den In­for­ma­tio­nen über das IT-Man­dat kon­fron­tiert, be­stä­tigt ZAS-Di­rek­ti­ons­ad­junkt Mar­kus Oder­matt, dass man an einem neu­en Ren­ten­zahl­sys­tem ar­bei­te. Ge­mäss Oder­matt soll es 2015 in Be­trieb sein. Auf die Fra­ge, wa­rum man nicht auf das funk­tio­nie­ren­de Sys­tem zu­rück­grei­fe, teil­te Oder­matt mit: Die vom IT-Un­ter­neh­mer ver­wen­de­te Pro­gram­mier­spra­che Perl ent­spre­che nicht den Stan­dards, zu­dem ge­be es bei der ZAS zu we­nig kom­pe­ten­te Leute, um da­mit um­zu­ge­hen.

Gaillard
Serge Gaillard Direktor der
Eidgenössischen
Finanzverwaltung

Oder­matts Aus­sa­ge er­staunt, such­te die ZAS doch Mit­te Ju­ni 2014 per Stel­len­in­se­rat nach einem wis­sen­schaft­li­chen Mit­ar­bei­ter mit Kennt­nis­sen eben­die­ser Pro­gram­mier­spra­che. Perl wird ge­mäss TA-Re­cher­chen auch bei an­de­ren Bun­des­stel­len an­ge­wen­det.

Laut Di­rek­ti­ons­ad­junkt Oder­matt will die IT-Ab­tei­lung der ZAS das Ren­ten­zahl­sys­tem trotz frü­he­rer Pro­ble­me selbst ent­wic­keln und die­ses in ein be­reits be­ste­hen­des, auf dem Mark er­hält­li­ches Pro­dukt in­te­grie­ren. Weil die In­for­ma­tik­ab­tei­lung nun Er­geb­nis­se lie­fern muss, soll sie ge­mäss ZAS-in­ter­nen Quel­len er­heb­lich un­ter Druck ste­hen.

Diesen Druck hat die Eid­ge­nös­si­sche Fi­nanz­kon­trol­le mit auf­ge­baut. Ihr vor einer Wo­che pub­li­zier­ter Be­richt über den Zu­stand der In­for­ma­tik­ab­tei­lung bei der ZAS ist we­nig schmei­chel­haft. Der TA be­rich­te­te be­reits im März aus­führ­lich dar­über. Auch die Un­ter­neh­mens­be­ra­ter der Fir­ma Ernst & Young ge­hen in zwei Ad­mi­ni­stra­tiv­un­ter­su­chun­gen mit der ZAS hart ins Ge­richt. Das Fa­zit ist er­nüch­ternd: Nicht nur wur­den sämt­li­che In­for­ma­tik­be­schaf­fun­gen in den letz­ten Jah­ren ohne Aus­schrei­bung ver­ge­ben. Für die Auf­trags­ver­ga­ben wa­ren gar ex­ter­ne Mit­ar­bei­ter ver­ant­wort­lich, die Pro­jekt­kos­ten lie­fen aus dem Ru­der, oft la­gen kei­ne Ver­trä­ge vor. Auch was die In­for­ma­tik- und Da­ten­si­cher­heit an­be­langt, be­ste­hen gros­se Män­gel.

«Irregularitäten» aufgedeckt

EFV-Di­rek­tor Ser­ge Gail­lard und ZAS-In­ter­ims­di­rek­tor Jean-Pier­re Kuhn schrie­ben letz­te Wo­che in einer in­ter­nen Mail, «ge­wis­se Ir­re­gu­la­ri­tä­ten» und «Be­triebs­lü­cken» sei­en nun ans Licht ge­bracht wor­den. Ent­spre­chend wür­den Mass­nah­men ge­trof­fen. Die EFK spricht von einer «schwer­wie­gen­den Si­tua­ti­on» und hat für Mit­te 2015 be­reits eine wei­te­re Kon­trol­le an­ge­kün­digt. Al­ler be­denk­li­chen Be­fun­de zum Trotz kün­dig­te die ZAS selbst­be­wusst an, man stre­be eine Zer­ti­fi­zie­rung für ein Qua­li­täts­ma­na­ge­ment­sys­tem ge­mäss dem ISO-Stan­dard 9001 an.