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Das Informatikdebakel bei der Zentralen Ausgleichskasse (ZAS) in Genf, der wichtigsten AHV-Zahlstelle, ist in den letzten Monaten ausführlich untersucht worden. Nicht aber die Frage nach der Höhe der finanziellen Schäden. Dies zu klären wäre wichtig, weil die AHV die ZAS zu 90 Prozent finanziert. Serge Gaillard, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, sagt: «Fälle von Korruption oder Hinweise auf grösseren finanziellen Schaden wurden nicht festgestellt.» Die Analyse der Untersuchungsberichte ergibt ein anderes Bild. Die AHV dürfte das Debakel einen zweistelligen Millionenbetrag gekostet haben.
(phr)
Kommentar Seite 2, Bericht Seite 3.
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Kommentar Philippe Reichen, Inland-Redaktor, über fehlende Transparenz bei den Verlusten der grössten AHV-Zahlstelle.
Die haarsträubenden Verfehlungen auf der Informatikabteilung der Zentralen Ausgleichsstelle in Genf sind erkannt und benannt. Bei der wichtigsten AHV-Zahlstelle wurden millionenteure IT-Projekte widerrechtlich vergeben, diverse davon ergebnislos abgebrochen, Projektkosten überbordeten, oft fehlten Abrechnungen, manchmal sogar Verträge. Das alles klingt nach grosser Geldverschwendung. Doch die finanziellen Verluste bei der zu 90 Prozent aus AHV-Geldern finanzierten ZAS sind bislang nicht untersucht und damit auch nicht dokumentiert worden. Ebenso wenig, ob es zu Fällen von Copinage oder Korruption gekommen ist.
Angesichts dieser Intransparenz ist es für die Eidgenössische Finanzverwaltung und deren Direktor Serge Gaillard ein Leichtes, «grössere finanzielle Verluste und Fälle von Korruption» in Abrede zu stellen. Gaillard, einst gefeierter Chefökonom des Schweizer Gewerkschaftsbunds, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er beim Informatikdesaster bei der ZAS nicht Dinge kaschieren will. Die Tatsache, dass die Finanzverwaltung Teile der vom Wirtschaftsprüfungsunternehmen Ernst & Young durchgeführten Administrativuntersuchung nicht publiziert, zeugt nicht vom Willen, Klarheit zu schaffen.
Die der Öffentlichkeit vorenthaltenen Teile enthalten zwar keine Verlustrechnung, doch sind sie durchaus aufschlussreich, weil sie die Kostenüberschreitungen dokumentieren. Dabei stört, dass die Namen jener Unternehmen geschwärzt sind, die von der ZAS lukrative Aufträge unter der Hand erhielten und abkassierten. Bei Aufträgen der öffentlichen Hand hat diese Art Geheimnistuerei nichts zu suchen. Es fragt sich, wer da wen schützen muss: die Ausgleichsstelle die Unternehmen oder sich selbst wegen der zahlreichen Unzulänglichkeiten? Vom ehemaligen Spitzengewerkschafter Serge Gaillard darf man im Umgang mit Volksvermögen durchaus mehr Sensibilität erwarten. Wenn es nämlich darum geht, bei der ZAS jene gut bezahlten Kaderleute zu schützen, die für die Geldverschwendung verantwortlich sind, ist er noch immer jener vorbildliche Gewerkschaftsführer, der er einmal war.
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Zwei Untersuchungsberichte zum Informatikdebakel bei der Zentralen Ausgleichskasse (ZAS) in Genf, der wichtigsten Zahlstelle für AHV-Renten, belegen: Bei der ZAS lief vieles schief. Mit einer Ausnahme wurden seit 2012 sämtliche IT-Projekte ohne Ausschreibung, also rechtswidrig vergeben. Diverse millionenteure Vorhaben wurden ergebnislos abgebrochen, wobei die Projektkosten teils überbordeten, oft Abrechnungen und manchmal sogar Verträge fehlten.
Trotz etlicher Verfehlungen war eine Frage bislang kein Thema: Wie viel Geld kostete das Debakel die AHV, welche die ZAS zu 90 Prozent finanziert? Glaubt man Serge Gaillard, dem Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV), gab es keine nennenswerten Verluste. Nach der Publikation der Berichte Anfang Juli schrieb er: «Fälle von Korruption oder Hinweise auf grösseren finanziellen Schaden wurden nicht festgestellt.» Obwohl Recherchen des «Tages-Anzeigers» Verluste in zweistelliger Millionenhöhe vermuten lassen, wiederholte EFV-Stabsleiter Andreas Hostettler jüngst Gaillards Aussage: «Wir halten an unserer Aussage fest, dass uns keine Hinweise auf grössere finanzielle Verluste vorliegen.»
Die Abwehrhaltung steht in scharfem Kontrast zu den Befunden zweier Untersuchungen. Die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK), die eine der beiden Untersuchungen durchführte, verweist auf «massive Kostenüberschreitungen» und stellt übermässige Ausgaben infrage. Auch die Revisionsgesellschaft Ernst & Young (EY), die den zweiten Bericht ausarbeitete, zeigt Kostenüberschreitungen auf, war auf Anfrage aber nicht bereit, Fragen zu finanziellen Schäden zu beantworten. Wie aus der Antwort auf eine Anfrage des TA hervorgeht, hat EY kein Mandat gehabt, Kostenüberschreitungen einzuordnen und finanzielle Verluste und Fehlinvestitionen zu beziffern.
Im EY-Rapport fallen die hohen Kosten für externe Mitarbeiter auf, welche die personell gut dotierte IT-Abteilung der ZAS zusätzlich engagierte. 2012 gab sie für 50 externe IT-Spezialisten 6,5 Millionen Franken aus. 2013 bezahlte die ZAS für 47 temporäre IT-Spezialisten gar eine Gesamtlohnsumme von 7,7 Millionen Franken. Im vergangenen Jahr kamen parallel zu den 7,7 Millionen Franken für «angemietetes» Informatikpersonal nochmals 5,5 Millionen Franken für IT-Mandate (Projektkosten) hinzu.
Der EFK-Bericht legt nahe, dass diese Ausgaben kaum gerechtfertigt sind. Es heisst: «Externe sind seit über zwei Jahren weiterbeschäftigt worden, obschon deren ursprüngliches Tätigkeitsfeld mit internen Mitarbeitenden besetzt ist.» Und weiter: Die Produktivität der Externen — wie auch jene der IT-Abteilung der ZAS — sei «bedenklich tief». Jedenfalls würden die IT-Projekte trotz laufender Zahlungen an externe Firmen «keinen nachvollziehbaren Fortschritt aufweisen». So der Aufbau eines ZAS eigenen Datacenters, den die EFK für überflüssig hält. Sie schreibt: Es hätte auch Lösungen ausserhalb der ZAS «bei bereits bestehenden Rechenzentren des Bundes oder bei kantonalen Partnern» gegeben. Das Fazit der EFK: Trotz «hohem Finanzverbrauch» sei «kein durchschlagender Erfolg sichtbar».
Betrachtet man die 13 Millionen Franken IT-Investitionen alleine fürs Jahr 2013, so erscheint es zweifelhaft, «dass der AHV kein grösserer finanzieller Schaden» erwachsen sein soll, wie EFV-Chef Gaillard sagt. EY regt «vertiefte Untersuchungen» an, um vorgefundene Probleme «zu bestätigen oder zu entkräften» und ihr «Ausmass abzuschätzen». EY hatte offenbar festgestellt, dass die Direktion Mitarbeiter unter Druck setzte und ihnen vorschrieb, über «Irregularitäten», die sie bei der Informatikabteilung festgestellt hatten, zu schweigen.
Zu Irregularitäten kam es bei der ZAS auch wegen überhöhter Zahlungen an IT-Firmen. Dokumentiert sind diese im unpublizierten Anhang der Berichte, den die EFV auf Nachfrage des TA aushändigte. EY analysierte fünf Schlüsselprojekte. Dabei fällt auf, dass die ZAS den beauftragten Unternehmen für deren Leistungen praktisch durchgehend mehr bezahlte, als vertraglich vereinbart worden war — sofern überhaupt Verträge abgeschlossen wurden. Die Kostenüberschüsse fielen nicht zu knapp aus. Beim Projekt Sitax (Budget 974'000 Franken) bezahlte die ZAS fast 800'000 Franken mehr, als in den Verträgen festgelegt worden war. Beim Projekt Alexsi (Budget 6 Millionen Franken) waren es rund 1,1 Millionen Franken zusätzlich. Die Mehrkosten für die drei restlichen von EY untersuchten Projekte hinzuaddiert, liegt die Gesamtsumme bei 2,3 Millionen Franken über Vertragsniveau.
Andreas Hostettler, Finanzverwaltung
Gemäss einem Linkedin-Eintrag ihres Senior IT-Managers B. G. verfügt die ZAS in ihrem Portfolio über 78 IT-Projekte; angesichts dieser Tatsache würden weitere Kostenüberschreitungen kaum überraschen. Extrapoliert man die bei vier Projekten festgestellten Kostenüberschreitungen auf die 78 IT-Projekte, ergibt dies eine Gesamtsumme von rund 45 Millionen Franken. EFV-Stabschef Hostettler hält diese Berechnungen jedoch für «falsch». Sie beruhten auf falschen Annahmen und seien auf unzulässige Art hochgerechnet. Hostettler räumt aber ein: «In gewissen Fällen sind Zahlungen über den vereinbarten Kostendächern erfolgt.» Dies sei auch auf ein ungenügendes Projektmanagement zurückzuführen, das zurzeit verbessert werde. Auch ZAS-Interimsdirektor Jean-Pierre Kuhn sagt: «Man kann aus einer Budgetüberschreitung nicht ohne weiteres auf das Vorliegen eines finanziellen Verlustes schliessen.» Kostenüberschreitungen seien «meistens auf das Vorkommen von Ereignissen während der Realisierung zurückzuführen», die gemäss Kuhn «nicht vorhergesehen werden konnten».
Zum Befund massiver Kostenüberschreitungen kommt hinzu, dass einzelne Projekte, so Alexsi, trotz Millionenaufwand ergebnislos abgebrochen wurden. Die Investitionen gingen komplett verloren. Die Anwendung Datamatrix, welche die ZAS 1,6 Millionen Franken kostete, gilt ZAS-intern als Fehlschlag, weil sie nur rudimentär funktioniert und sogar Mehraufwand verursacht. Gemäss TA-Informationen hat die ZAS Datamatrix definitiv aufgegeben.
Offen bleibt, warum die ZAS mit einzelnen Firmen keine Lieferverträge abschloss. Dem TA liegt ein internes Dokument vor, gemäss dem ein Westschweizer IT-Unternehmen vertragslos am Aufbau der Anwendung Sitax arbeitete. Sitax funktioniert heute, kostete aber rund 1 Million Franken mehr als budgetiert. A. C., CEO des Unternehmens, sagt gegenüber dem TA: «Wenn ein Kunde wie die ZAS eine Offerte wünscht und kein öffentliches Bietverfahren durchführt, arbeiten wir entweder mit Verträgen oder unterschriebenen Offerten mit dem entsprechenden Detaillierungsgrad.» Das dürfte kaum im Sinne der EFK sein. Sie geht als Folge des mangelhaften Vertragscontrollings von «zu hohen, wettbewerbslosen Preisen und qualitativen Problemen» aus.
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Die Unzulänglichkeiten auf der Informatikabteilung bei der Zentralen Ausgleichsstelle (ZAS) in Genf blieben in Bern lange unbemerkt. Die wichtigsten Akteure und ihre Rollen:
Michel Huissoud, Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle (EFK), erhielt bis im Sommer 2013 von mehr als einem Dutzend Whistleblowern aus der ZAS Hinweise auf fragwürdige Vorgänge in der Informatikabteilung. Im September 2013 liess Huissoud vor Ort erste Abklärungen machen. Im März 2014 durchleuchteten vier Finanzkontrolleure die IT-Abteilung. Anfang Juli veröffentlichte die EFK ihren Bericht. Er dokumentiert Gesetzesverstösse und diverse sonstige Unzulänglichkeiten.
Serge Gaillard, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung (EFV), ist in der Bundesverwaltung Direktverantwortlicher für die ZAS. Nachdem die von der Finanzkontrolle vorgefundenen Mängel bekannt geworden waren, beauftragte er die Revisionsgesellschaft Ernst & Young (EY) mit zwei Administrativuntersuchungen. Die EY-Berichte über die Arbeit der Informatikabteilung und zur Datensicherheit bei der ZAS hat die EFV Anfang Juli veröffentlicht. Bei den publizierten Versionen hat sie jedoch wesentliche Teile weggelassen, die sie dem TA auf Nachfrage aber aushändigte.
Die langjährige ZAS-Direktorin Valérie Cavero verliess die Ausgleichsstelle im November 2013 — «auf eigenen Wunsch hin», wie sie gegenüber dem TA sagt. Das Generalsekretariat des Finanzdepartements reichte bei der Bundesanwaltschaft gegen Cavero Strafanzeige wegen ungeklärter Spesenbezüge ein.
Dem ZAS-Informatikchef Stéphane Brunner steht seit einigen Wochen ein Coach zur Seite. Dieser soll dafür sorgen, dass Brunners Abteilung IT-Aufträge in Zukunft gesetzeskonform vergibt. (phr)
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Powered by | Stand: 12. August 2014 | © Tages Anzeiger |