Steuerverwaltung: Weitere Abgänge wegen Insieme
(SDA)
Nebst Direktor Urs Ursprung musste auch ein Topexperte
des Informatikprojekts Insieme gehen.
Dasselbe Los droht einem halben Dutzend weiterer Spezialisten.
Der Entwicklungschef des Informatikprojekts Insieme hat bereits
Ende Mai die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) verlassen.
Er musste gehen, weil er illegal angestellt worden war.
ESTV-Sprecher Beat Furrer bestätigte einen entsprechenden
Bericht der Zeitung «Sonntag».
Erst am 19. Juni platzte die Affäre Insieme,
und ESTV-Direktor Urs Ursprung musste den Hut nehmen.
Beim entlassenen Entwicklungschef handle es sich um eine «Schlüsselfigur»
für Insieme, sagte Furrer.
Dessen Stelle habe den WTO-Schwellenwert von 230'000 Franken überstiegen,
ab welchem eine öffentliche Ausschreibung zwingend ist, räumte Furrer ein.
Die Vorschrift sei nicht eingehalten worden, weil die ESTV
«Dringlichkeit erklärt» habe.
Aufgeflogen sei dies im Rahmen der von Finanzministerin
Eveline WidmerSchlumpf im Januar angeordneten
Administrativuntersuchung.
Dabei sei auch herausgekommen,
dass ein halbes Dutzend weiterer externer Spezialisten
für Insieme ohne WTO-Ausschreibung angestellt worden sei.
Offen ist, ob auch sie gehen müssen.
Korruptionsrisiko steigt
Das Ergebnis der Administrativuntersuchung bezeichnet
der Chef der Eidgenössischen Finanzkontrolle, Kurt Grüter,
als «schlechtes Signal für die Bevölkerung».
«Es führt zu einem Vertrauensverlust», sagte er der «NZZ am Sonntag».
Den Fall Insieme nannte Grüter einen «Einzelfall».
Man dürfe nicht generalisieren,
die Bundesverwaltung arbeite im Grossen und Ganzen professionell.
Von Verstössen erfährt die Finanzkontrolle laut Grüter
durch Prüfungen in den Verwaltungseinheiten.
«Whistleblower sind zusätzlich eine wertvolle Informationsquelle,
die wir konsequent — anonym oder nicht — für unsere Prüfungen verwerten.»
2011 seien rund 60 Meldungen eingegangen, seit Anfang 2012 rund 30.
Die Bundesverwaltung vergebe immer mehr Aufträge an externe Experten.
Sorge bereitet Grüter, dass auch Kernaufgaben des Bundes ausgelagert werden.
Mit der Zahl der Vergaben sei die Zahl der freihändigen Auftragsvergaben gestiegen.
Und damit «steigt das Korruptionsrisiko».
* * *
Bund vergab Aufträge für 376 Millionen unter der Hand
Von Christian Brönnimann, Bern
Entgegen den Forderungen der Aufsichtsorgane hat 2011 der Umfang
der freihändigen Vergaben in der Bundesverwaltung zugenommen.
Im letzten Jahr hat die Bundesverwaltung pro Tag im Schnitt einen
Auftrag vergeben, ohne ihn auszuschreiben,
obwohl die jeweilige Auftragssumme über dem Schwellenwert von 230'000 Franken lag.
Konkret gab es 361 solche Verträge mit einem Umfang von knapp 376 Millionen Franken.
Das zeigt eine Zusammenstellung, die der «Tages-Anzeiger» —
gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz — bei der Verwaltung angefordert hat.
Im Vergleich zu 2009 ist damit die Summe der Freihandvergaben,
die sich auf eine Ausnahmeklausel stützen, leicht angestiegen.
Dies, obwohl Aufsichtsgremien wie die Eidgenössische Finanzkontrolle
oder die parlamentarische Finanzdelegation seit
Jahren auf deren Reduktion pochen.
Die Zusammenstellung macht zudem ersichtlich,
wie sich die freihändigen Vergaben auf die einzelnen Departemente verteilen.
Spitzenreiter ist das Finanzdepartement von Eveline Widmer-Schlumpf mit
100 Freihandvergaben über dem Schwellenwert, im Umfang von 116 Millionen Franken.
Auf Rang zwei folgt das Volkswirtschaftsdepartement von Johann Schneider-Ammann.
Auffällig ist hier der grosse Unterschied zwischen den Werten von 2009 und jenen von 2011.
2009, als das Departement noch von Doris Leuthard geführt wurde,
gab es Freihandvergaben über dem Schwellenwert im Umfang von 24 Millionen Franken.
Unter Schneider-Ammann hat sich dieser Wert 2011 mehr als verdreifacht.
Über die Ursachen der Entwicklung schweigt das Volkswirtschaftsdepartement.
Probleme nicht nur bei Insieme
Das Finanzdepartement begründet seinen Spitzenplatz damit,
dass es in der bei ihm angesiedelten zentralen Beschaffungsstelle
generell überdurchschnittlich viele Beschaffungen gebe.
Zudem entfalle ein grosser Teil der freihändigen Vergaben,
nämlich deren 35, auf das Projekt Insieme der Steuerverwaltung.
Die Verstösse gegen das Beschaffungsrecht im Rahmen von Insieme
haben Amtsdirektor Urs Ursprung vor drei Wochen den Posten gekostet.
Neben den Aufträgen für Insieme hat die Steuerverwaltung 2011
allerdings fünf weitere Vergaben über dem Schwellenwert
freihändig getätigt,
die vom Finanzdepartement im Nachhinein als heikel beurteilt worden sind.
Die Frage, in welchem Zusammenhang diese Vergaben stattfanden,
beantwortet die Steuerverwaltung nicht.
* * *
Jeden Tag ein freihändiger Vertrag
In den Departementen von Eveline Widmer-Schlumpf und Johann Schneider-Ammann
sind die Vergaben unter der Hand am umfangreichsten.
Ueli Maurer hingegen dämmte die umstrittene Praxis ein.
Von Christian Brönnimann, Bern
Unter ihnen wird vieles ohne Ausschreibung vergeben:
Die Bundesräte Eveline Widmer-Schlumpf und Johann Schneider-Ammann.
Foto: Peter Schneider (Keystone)
Informationen über die Beschaffungspraxis des Bundes sind rar.
Die Departemente hängen die Zahlen dazu lieber nicht an die grosse Glocke,
und seit mehreren Jahren hat der Bund keine Beschaffungsstatistik mehr veröffentlicht.
Eine Anfrage des «Tages-Anzeigers» unter Berufung
auf das Öffentlichkeitsgesetz
an die Bundesverwaltung zeigt nun erstmals,
wie oft in den sieben Departementen Aufträge ohne
öffentliche Ausschreibung vergeben werden,
obwohl die Auftragssumme über dem WTO-Schwellenwert von 230'000 Franken liegt.
Gemäss der Zusammenstellung der Bundeskanzlei vergaben die Bundesstellen
2011 durchschnittlich einen solchen freihändigen Auftrag pro Tag.
Das Volumen betrug total rund 376 Millionen Franken.
Am häufigsten waren Freihandvergaben im Finanzdepartement (EFD)
von Eveline Widmer-Schlumpf.
35 Vergaben allein für Insieme
Ein EFD-Sprecher erklärt die hohe Zahl damit, dass die
zentrale Beschaffungsstelle,
das Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL),
im Finanzdepartement angesiedelt sei und deshalb
«generell überproportional viele
Beschaffungsgeschäfte» anfielen.
Die departementsübergreifende
Beschaffungsstatistik, die dies belegen könnte,
ist derzeit nicht zugänglich. Das dafür zuständige BBL
kündigt auf seiner Website an,
dass die Statistik «demnächst» veröffentlicht werde.
Die zweite Ursache für die Spitzenposition des EFD ist das
Informatikpannenprojekt Insieme der Steuerverwaltung.
Die missbräuchliche Vergabepraxis bei Insieme,
die Amtschef Urs Ursprung den Posten gekostet hat und deretwegen die
Bundesanwaltschaft ermittelt,
beinhaltete allein im vergangenen Jahr 35 freihändige
Vergaben über dem Schwellenwert.
Die wichtigste Ausnahmeklausel für die Freihandvergaben
im EFD ist gemäss dem Sprecher diejenige,
die besagt, dass ein Auftrag wegen spezifischer technischer
Vorgaben oder wegen des Schutzes
geistigen Eigentums nur an einen bestimmten Auftragnehmer vergeben werden kann.
Diese Ausnahmeregelung greift beispielsweise dann,
wenn eine externe Firma bereits Vorarbeiten geleistet hat.
Maurer habe «durchgegriffen»
Das zweitgrösste Volumen bei den freihändigen
Vergaben über dem Schwellenwert
findet sich in Johann Schneider-Ammanns Volkswirtschaftsdepartement (EVD).
Hier fällt auf, dass sich der Wert 2011 (74 Millionen Franken) gegenüber 2009 —
damals stand das EVD noch unter der Führung von Doris Leuthard — mehr als verdreifacht hat.
Ein Departementssprecher wollte auf Anfrage keine
Erklärung dafür abgeben.
Auch beim Aussendepartement (EDA), dessen Amtsstellen 2011
am drittmeisten freihändig vergeben haben,
blieb eine entsprechende Anfrage unbeantwortet.
Auffällig ist die Entwicklung im Verteidigungsdepartement (VBS) von Ueli Maurer.
2011 wurden Aufträge im Wert von «nur» 27 Millionen
Franken unter der Hand vergeben —
viermal weniger als zwei Jahre zuvor.
Eine Sprecherin führt dies direkt auf den Führungsstil Maurers zurück.
«Der Chef VBS hat mit seinen durch ihn erteilten Inspektionen durchgegriffen
und seine Direktunterstellten schon früh darauf
sensibilisiert», konstatiert sie.
Nicht nur klare Vorgaben, sondern auch periodische Kontrollen
hätten zu einer Verbesserung geführt.
Maurer hatte letztes Jahr unter anderem angeordnet,
dass seine Mitarbeiter alle neuen Dienstleistungsverträge
bei ihm melden müssen.
Vom Ziel noch weit entfernt
«Die Ausnahmen lassen Ermessensspielraum offen, was Missbräuche ermöglicht.»
Christoph Jäger, Jurist.
Nicht jede Vergabe ohne Ausschreibung ist problematisch.
Darauf pochen die Departemente, und auch unabhängige
Experten anerkennen dies.
«Es gibt Fälle, in welchen eine Direktvergabe absolut
rechtskonform und zudem auch günstiger ist»,
sagt der auf das öffentliche Beschaffungswesen spezialisierte
Jurist Christoph Jäger. Denn eine WTO-Ausschreibung sei immer
mit einem gewissen Aufwand verbunden.
Dies alleine rechtfertige eine freihändige
Vergabe aber normalerweise nicht, so Jäger.
«Die Ausnahmebestimmungen im Gesetz lassen einen
relativ grossen Ermessensspielraum offen,
was Missbräuche ermöglicht.»
Die Aufsichtsgremien wünschen sich denn auch,
dass der Bund die Vergaben ohne Ausschreibung reduziert.
Die Vorteile ordentlicher Beschaffungen gemäss der
Eidgenössischen Finanzkontrolle:
Sie führen «allgemein zu Einsparungen» und weisen
ein tieferes Korruptionsrisiko auf.
Auch Jurist Jäger ist der Meinung, dass sich Ausschreibungen in der Regel auszahlen,
da Hoflieferanten dazu neigten, das Preis-Leistungs-Verhältnis
zu ihren Gunsten zu verschieben.
Der Präsident der parlamentarischen
Finanzdelegation (Findel), Urs Schwaller,
formulierte jüngst das Ziel, dass Freihandvergaben
über dem Schwellenwert höchstens
2 Prozent vom Total der bezogenen Lieferungen und
Leistungen des Bundes ausmachen sollten.
Davon ist die Bundesverwaltung noch weit entfernt: Die Findel hat berechnet,
dass aktuell zwischen 7 und 8 Prozent aller Zahlungen für
kommerzielle Beschaffungen
unter der Hand vergeben werden. Dabei, so das Fazit,
werde das Beschaffungsrecht nicht immer eingehalten.
Gärtchendenken in den Ämtern
Der Bundesrat, dem die Findel im letzten Tätigkeitsbericht
eine Laissez-faire-Haltung vorwarf,
gelobt inzwischen offensiv Besserung. Denn mit dem Fall Ursprung
ist der öffentliche Druck gewachsen.
Nach ihrer Sitzung von letzter Woche teilte die Regierung mit,
sie habe «die Konsequenzen aus Insieme gezogen» und die Arbeiten
am departementsübergreifenden Beschaffungscontrolling
«weiter konkretisiert».
Geplant ist eine Software für das Vertragsmanagement in allen
Departementen.
Gegen das Controlling regt sich allerdings verwaltungsinterner Widerstand.
Der «Departementsföderalismus» werde
an allen Fronten ungemein verteidigt,
sagt ein langjähriger Mitarbeiter einer zentralen Stelle der Bundesverwaltung.
Departements- und Amtsleiter unternähmen alles, damit
ihr «Gärtchen» nicht angetastet werde.
Auf den Punkt gebracht laute in vielen Amtsstuben die Maxime, sich ja nicht in die
Karten blicken oder in die eigenen Geschäfte hineinreden zu lassen.
Deshalb, so der Insider, habe es das Beschaffungscontrolling
in der Bundesverwaltung so schwer.
* * *
Die korrupte Schweiz
Unser Land geniesst den Ruf, arm an Bestechung zu sein.
Der Insieme- und der BVK-Skandal zeigen nun:
Auch in der Schweiz läuft einiges wie geschmiert.
Von Thomas Knellwolf
Am Anfang war ein Gefallen. Und für den Gefallen gab es eine Gegenleistung.
Am Ende, Jahre später, war es der Bieler Ghüdermänner-Fall.
Zwei Angestellte der städtischen Kehrichtabfuhr hatten sich mit dem
Besitzer eines Blumenladens darauf verständigt, die Abfallcontainer zu leeren,
auch wenn keine Vignetten an den Säcken klebten.
Dafür bekamen sie jedes Mal ein paar Franken — und Appetit auf mehr.
Nach der ersten Gratisentsorgung verstrich fast ein Jahrzehnt,
bis die Ghüdermänner vor dem Kreisgericht Biel-Nidau standen.
«Wir haben Mist gebaut», gestand einer der beiden.
«Die Ausnahme wurde irgendwann zur Regel.»
Immer wieder hatten sich der Chauffeur und sein Beifahrer
zum Kaffee samt währschaftem Znüni einladen lassen.
Auch der Abfall des spendablen Cafés landete jeweils ohne Marken in ihrem Lastwagen.
Vom FC Biel gab es zwei Saisonabonnements.
Dafür drückten die Ghüdermänner je ein Auge zu,
wenn sie die Hinterlassenschaft anderer Matchbesucher entsorgten.
Ohne Kostenfolge.
Sie würden es vielleicht heute noch tun, wenn nicht plötzlich
die Stadt Biel die Touren ihrer Kehrichtvequipen anders verteilt hätte.
Sofort fiel den Kollegen auf, dass beim Abfall des Floristen, des Cafés,
beim Fussballstadion und an vielen anderen Orten Vignetten fehlten.
Der Vorgesetzte wurde eingeschaltet und die Polizei; das Duo wurde verhaftet,
entlassen und vor Gericht gestellt. Beide bekamen ein Jahr bedingt.
Ein vergleichsweise harmloses Beispiel — und gerade deswegen ein typisches.
In der Schweiz kommt es gemäss der polizeilichen Kriminalitätsstatistik
jedes Jahr zu zwanzig und mehr neuen Korruptionsverfahren.
Die Zahlen aus den Kantonen sind erstaunlich konstant:
2009 waren es 24 Fälle, 2010 deren 21 und vergangenes Jahr 20.
Deliktsumme häufig vierstellig
Schmiergeld fliesst. Auch in der Schweiz. Doch die wenigsten Fälle erregen über die
Gemeinde- oder Kantonsgrenzen hinaus Aufsehen.
Nur selten fördern Ermittlungen Spektakuläres
zutage wie der kürzlich aufgeflogene
Insieme-Fall im Finanzdepartement des Bundes oder die
Korruptionsaffäre um die Pensionskasse BVK,
die seit gestern vor dem Bezirksgericht Zürich verhandelt wird.
In beiden Fällen, die derzeit Schlagzeilen machen, sind mittlere
Verwaltungskader beschuldigt;
beide Male geht es um Investitionen in Millionenhöhe.
Korruption made in Switzerland heisst meist: Der Bestochene ist ein Angestellter.
Der Normalfall der Korruption made in Switzerland sieht anders aus:
Oft sind die Bestochenen einfache Angestellte auf unteren Hierarchiestufen.
Häufig bleibt die Deliktsumme vierstellig, selten überschreitet sie 25'000 Franken.
Die Bieler Ghüdermänner waren mit ihrem illegalen
Nebenerwerb fast schon Grossverdiener.
Sie kassierten gemeinsam mehr als 100'000 Franken.
Ohne die kleinen Fälle gibt es laut Experten auch weniger grosse.
Ohne grosse weniger kleine. Vieles ist eine Frage der Atmosphäre am Arbeitsplatz.
Die Basis in einem Amt oder einer Firma ist eher bereit, Schmiergeld anzunehmen,
wenn sie das Gefühl hat, dass die Spitze sich auch bedient.
Gerade deswegen beunruhigt der Fall Insieme Jean-Pierre Méan,
den Präsidenten von Transparency International Schweiz.
«Wenn ein so hoher Beamter des Bundes sich die Freiheit nimmt,
das Gesetz über das Beschaffungswesen zu ignorieren»,
sagt Méan mit Blick auf den zurückgetretenen Chef der Steuerverwaltung,
Urs Ursprung, «kann man daraus schliessen, dass es einer gewissen Kultur entspricht.
Jedenfalls muss man das untersuchen.»
Zufriedenheit im Büro und ein gutes Klima sind die besten Korruptionsblocker.
Problematisch ist es, wenn Vorgesetzte mit schlechtem Beispiel vorangehen —
wie bis vor kurzem bei der jurassischen Polizei.
Zwei Kommandanten in Folge bezogen ihre Privatautos
mit «Behördenrabatt»:
16 Prozent billiger. Der eine Kommandant gönnte sich jedes Jahr den neuesten BMW.
Als er deswegen verurteilt wurde, war er bereits pensioniert.
Sein Nachfolger trat letztes Jahr wegen der BMW-Affäre und
weiterer Vorwürfe von seinem Amt zurück.
«Der Jura hat keinen Schaden erlitten», behauptete
der ältere der Beschuldigten vor Gericht.
Ein Trugschluss. Korruption wird zwar als «opferloses Delikt» bezeichnet.
Doch das Gegenteil ist der Fall. Alle, ausser die Täter, sind Opfer.
«Geschädigt durch Korruption in der Verwaltung werden
normalerweise die Steuerzahler»,
sagt Simone Lerch, Analystin beim Bundesamt für Polizei (Fedpol).
«Ihr Geld wird nicht bestmöglich investiert.»
Geprellt werden aber insbesondere die Konkurrenten des Anbieters,
der wegen seines Schmiergelds einen Auftrag zugeschanzt erhält.
Doch keines der vielen Opfer ahnt, dass es Opfer geworden ist.
«Anders als bei einem Handtaschenraub wird keine Anzeige erstattet», erklärt Lerch.
Entsprechend hoch ist die Dunkelziffer — in der Verwaltung
und noch mehr in der Privatwirtschaft,
wo nur wenige Fälle auffliegen. Geschieht dies, ist oft die Beweisführung schwierig.
Bestechende und Bestochene hinterlassen meist wenig Spuren.
Nur dumme Korrupte verbuchen Schwarzgeldflüsse und stellen Quittungen aus.
Auf den Ranglisten der korruptesten Staaten landet die Schweiz stets auf hinteren
Plätzen — obwohl es für die undurchsichtige Parteien-, Wahl- und
Abstimmungsfinanzierung jeweils reichlich Pluspunkte gibt.
Zehn Verurteilungen pro Jahr wegen Urkundenfälschung im Amt und ähnliche
Delikte reichen nicht für einen Platz weiter vorne.
In drei Bereichen ist die Verwaltung laut einer Lageanalyse des Fedpol
besonders anfällig für Korruption: wo sie Aufträge vergibt.
Wo sie bewilligt. Wo sie büsst und straft.
Eifersucht ist eine grosse Gefahr
Schweizer Korruptionsskandale der jüngeren Zeit betreffen oft den Bereich,
dessen Name nach massenhaft Bürokratie klingt: das Beschaffungswesen.
Insieme ist nur ein Beispiel. Ein anderes ist das Netzwerk,
das sich der frühere Chef der Haustechnik der Ecole Polytechnique
Fédérale de Lausanne (EPFL) aufgebaut hatte.
Er bevorzugte rund ein Dutzend Handwerker,
die ihm jeweils 10 Prozent der Auftragssumme persönlich zukommen liessen.
Insgesamt waren es gegen 300'000 Franken. Solche Kickbacks sind ein Klassiker der Korruption.
Von 1982 bis 2003 funktionierte das System des EPFL-Haustechnikers.
Bis die Ehefrau eines involvierten Handwerkers Anzeige erstattete.
Partnerschaften und Eifersucht sind gefährlich: Ein Angestellter eines Hochbauamts
in einer Kleinstadt bekam von einem Bauunternehmer eine
Wohnung für Seitensprünge zu Verfügung gestellt.
Als er seiner Stundenliebe den Laufpass gegeben hatte,
rächte sich die Verlassene, indem sie ihn verpetzte.
Bei den Bewilligungen und Bescheinigungen,
dem zweiten korruptionsanfälligen Bereich,
geht es oft um den Kauf von Aufenthalts- und Einreisebewilligunvvvgen.
Visa in Schweizer Botschaften auf mehreren Kontinenten wurden in den
letzten Jahren gegen Schmiergeld vergeben.
Korruptionsgefahr ist auch dann im Verzug, wenn
Staatsangestellte in jenem Bereich verkehren,
für das sie beruflich zuständig sind. Zahlreich sind die Beispiele aus dem Rotlichtmilieu.
Eine gewisse Dreistigkeit an den Tag legte im Jahr 2000 jener
Zürcher Beamte, der die Red-Lips-Affäre auslöste.
Der Angestellte des städtischen Arbeitsamtes,
zuständig für Bewilligungen, kündigte,
um bei einem Cabaret als stellvertretender Clubmanager einzusteigen.
Er heiratete eine Stripperin aus Rumänien, die in einem
der Lokale seines künftigen Chefs tätig war.
Zu seinen letzten Amtshandlungen gehörte es, für seinen
künftigen Arbeitgeber einen Antrag auszuarbeiten,
um das Tänzerinnenkontingent zu erhöhen. Verurteilt wurde er schliesslich,
weil ihm in den Nachtclubs in grossem Stil Alkoholika spendiert wurden.
Die Verteidigung machte ohne Erfolg geltend, dies sei
branchenübliche «Klimapflege».
Ähnlich gut gehen liessen es sich zwei Angestellte des
Solothurner Amts für Ausländerfragen.
Ein Adjunkt ging im Cabaret «The King’s Clubs» in Zuchwil ein und aus —
und wurde dort hofiert wie ein kleiner Prinz.
Gegen Gratisverpflegung warnte er den Lokalbetreiber vor Razzien.
Ein Sekretär desselben Amtes nahm Dienste von
Prostituierten in Anspruch — ohne zu bezahlen.
Einmal tat er dies auch, als er eine Ausschaffung nach Istanbul begleitete.
Das Solothurner Obergericht verurteilte 2002 den Adjunkten zu vier Monaten
Gefängnis bedingt und den Sekretär zu zwei Wochen.
Beide wurden für zwei Jahre für amtsunfähig erklärt.
Der dritte korruptionsanfällige Bereich einer Verwaltung, die Bussen und Strafen,
scheint in der Schweiz ein eher hartes Pflaster für Täter zu sein.
Dies musste ein Wilderer aus dem Solothurner Bezirk Thal-Gäu erfahren.
Als er ertappt wurde, wollte er den Wildhüter dazu bringen, auf eine Verzeigung zu verzichten.
Er bot ihm ein illegal geschossenes Reh an. Der Schuss ging nach hinten los.
Im Jahr 2003 wurde er wegen Widerhandlung gegen das Wild- und das Waldgesetz zu einer
bedingten Gefängnisstrafe von vier Monaten verurteilt.
Ähnlich ergeht es oft Autofahrern, die ihren Alkoholpegel mit
einem Geldschein senken wollen.
Zusätzlich zur Busse setzt es meist eine Anzeige ab.
Besser scheint es manchmal in den Gefängnissen mit der Bestechung zu klappen:
Insassen berichten immer wieder, dort sei alles, was untersagt
und verboten ist, zu erstehen:
Handys, Drogen, Alkohol, Anabolika.
Wärter und andere Angestellte übersehen gegen
Bezahlung solche Lieferungen oder schmuggeln selber.
Kleinräumigkeit als Risiko
«Vetterliwirtschaft» im Wortsinn, innerhalb der Familie, bildet die Ausnahme:
Werden Verwandte bevorzugt, fällt das auf — und erweckt Neid.
Enthüllungen zu Insieme zeigen, wie leicht es sich skandalisieren lässt,
wenn ein Staatsangestellter mit Angehörigen geschäftet.
«Früher war es fast undenkbar, dass bei einem Kantonsauftrag ein
ausserkantonaler Anbieter den Zuschlag erhielt»,
sagt Jean-Pierre Méan von Transparency International Schweiz.
«Heute ist es gang und gäbe.» Dennoch ist die Schweiz kleinräumig geblieben.
Oft werden aus Bekanntschaften Geschäftsbeziehungen oder umgekehrt.
Es entstehen Freundschaften, Seilschaften, Abhängigkeiten, Filz, Komplizen.
Harmlos fängt es an. Der Unternehmer überlässt dem Verwaltungsangestellten sein
Feriendomizil («Bin froh, wenn es nicht die ganze Zeit leer steht»),
er lädt ihn zum Essen ein, schickt eine Kiste Wein zu Weihnachten.
«So wird die Bereitschaft zu mehr ausgetestet», sagt Simone Lerch vom Fedpol.
Wo beginnt die Korruption? Mancherorts beim Bund gibt es eine Nulltoleranz:
Kein Kaffee, kein Kugelschreiber darf angenommen werden.
Angehörige der Bundeskriminalpolizei,
die Korruptionsfälle in der Bundesverwaltung untersuchen,
dürfen sich nur einladen oder beschenken lassen, wenn der Wert 50 Franken nicht übersteigt.
Alles bis 100 Franken muss intern gemeldet und bewilligt werden. Alles darüber ist tabu.