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Steuerverwaltung: Weitere Abgänge wegen Insieme

(SDA)

Nebst Direk­tor Urs Ur­sprung muss­te auch ein Top­ex­per­te des In­for­ma­tik­pro­jekts In­sie­me ge­hen. Das­sel­be Los droht einem hal­ben Dut­zend wei­te­rer Spe­zia­lis­ten.

Der Entwick­lungs­chef des In­for­ma­tik­pro­jekts In­sie­me hat be­reits En­de Mai die Eid­ge­nös­si­sche Steu­er­ver­wal­tung (ESTV) ver­las­sen. Er muss­te ge­hen, weil er il­le­gal an­ge­stellt wor­den war. ESTV-Spre­cher Beat Fur­rer be­stä­tig­te einen ent­spre­chen­den Be­richt der Zei­tung «Sonn­tag». Erst am 19. Ju­ni platz­te die Af­fä­re In­sie­me, und ESTV-Di­rek­tor Urs Ur­sprung muss­te den Hut neh­men. Beim ent­las­se­nen Ent­wick­lungs­chef hand­le es sich um eine «Schlüs­sel­fi­gur» für In­sie­me, sagte Fu­rrer. Des­sen Stel­le ha­be den WTO-Schwel­len­wert von 230'000 Fran­ken über­stie­gen, ab wel­chem eine öf­fent­li­che Aus­schrei­bung zwin­gend ist, räum­te Fur­rer ein. Die Vor­schrift sei nicht ein­ge­hal­ten wor­den, weil die ESTV «Dring­lich­keit er­klärt» ha­be.

Auf­ge­flo­gen sei dies im Rah­men der von Fi­nanz­mi­nis­te­rin Eve­li­ne Wid­merSchlumpf im Ja­nuar an­ge­ord­ne­ten Ad­mi­ni­stra­tiv­un­ter­su­chung. Da­bei sei auch her­aus­ge­kom­men, dass ein hal­bes Dut­zend wei­te­rer ex­ter­ner Spe­zia­lis­ten für In­sie­me oh­ne WTO-Aus­schrei­bung an­ge­stellt wor­den sei. Of­fen ist, ob auch sie ge­hen müs­sen.

Korruptionsrisiko steigt

Das Er­geb­nis der Ad­mi­ni­stra­tiv­un­ter­su­chung be­zeich­net der Chef der Eid­ge­nös­si­schen Fi­nanz­kon­trol­le, Kurt Grü­ter, als «schlech­tes Sig­nal für die Be­völ­ke­rung». «Es führt zu einem Ver­trau­ens­ver­lust», sag­te er der «NZZ am Sonn­tag». Den Fall In­sie­me nann­te Grü­ter einen «Ein­zel­fall». Man dür­fe nicht ge­ne­ra­li­sie­ren, die Bun­des­ver­wal­tung ar­bei­te im Gros­sen und Gan­zen pro­fes­sio­nell.

Von Ver­stös­sen er­fährt die Fi­nanz­kon­trol­le laut Grü­ter durch Prü­fun­gen in den Ver­wal­tungs­ein­hei­ten. «Whist­le­blo­wer sind zu­sätz­lich eine wert­vol­le In­for­ma­tions­quel­le, die wir kon­se­quent — ano­nym oder nicht — für un­se­re Prü­fun­gen ver­wer­ten.» 2011 sei­en rund 60 Mel­dun­gen ein­ge­gan­gen, seit An­fang 2012 rund 30. Die Bun­des­ver­wal­tung ver­ge­be im­mer mehr Auf­trä­ge an ex­ter­ne Ex­per­ten. Sor­ge be­rei­tet Grü­ter, dass auch Kern­auf­ga­ben des Bun­des aus­ge­la­gert wer­den. Mit der Zahl der Ver­ga­ben sei die Zahl der frei­hän­di­gen Auf­trags­ver­ga­ben ge­stie­gen. Und damit «steigt das Kor­rup­tions­ri­si­ko».

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Bund vergab Aufträge für 376 Millionen unter der Hand

Von Christian Brönnimann, Bern

Entgegen den Forderungen der Aufsichts­organe hat 2011 der Umfang der frei­händigen Vergaben in der Bundes­verwaltung zugenommen.

Im letz­ten Jahr hat die Bun­des­ver­wal­tung pro Tag im Schnitt einen Auf­trag ver­ge­ben, oh­ne ihn aus­zu­schrei­ben, ob­wohl die je­wei­li­ge Auf­trags­sum­me über dem Schwel­len­wert von 230'000 Fran­ken lag. Kon­kret gab es 361 sol­che Ver­trä­ge mit einem Um­fang von knapp 376 Mil­lio­nen Fran­ken. Das zeigt eine Zu­sam­men­stel­lung, die der «Ta­ges-An­zei­ger» — ge­stützt auf das Öf­fent­lich­keits­ge­setz — bei der Ver­wal­tung an­ge­for­dert hat. Im Ver­gleich zu 2009 ist da­mit die Sum­me der Frei­hand­ver­ga­ben, die sich auf eine Aus­nah­me­klau­sel stüt­zen, leicht an­ge­stie­gen. Dies, ob­wohl Auf­sichts­gre­mi­en wie die Eid­ge­nös­si­sche Fi­nanz­kon­trol­le oder die par­la­men­ta­ri­sche Fi­nanz­de­le­ga­tion seit Jah­ren auf de­ren Re­duk­tion po­chen.

Die Zu­sam­men­stel­lung macht zu­dem er­sicht­lich, wie sich die frei­hän­di­gen Ver­ga­ben auf die ein­zel­nen De­par­te­men­te ver­tei­len. Spit­zen­rei­ter ist das Fi­nanz­de­par­te­ment von Eve­li­ne Wid­mer-Schlumpf mit 100 Frei­hand­ver­ga­ben über dem Schwel­len­wert, im Um­fang von 116 Mil­lio­nen Fran­ken. Auf Rang zwei folgt das Volks­wirt­schafts­de­par­te­ment von Jo­hann Schnei­der-Am­mann. Auf­fäl­lig ist hier der gros­se Un­ter­schied zwi­schen den Wer­ten von 2009 und je­nen von 2011. 2009, als das De­par­te­ment noch von Do­ris Leut­hard ge­führt wur­de, gab es Frei­hand­ver­ga­ben über dem Schwel­len­wert im Um­fang von 24 Mil­lio­nen Fran­ken. Un­ter Schnei­der-Am­mann hat sich die­ser Wert 2011 mehr als ver­drei­facht. Über die Ur­sa­chen der Ent­wick­lung schweigt das Volks­wirt­schafts­de­par­te­ment.

Probleme nicht nur bei Insieme

Das Fi­nanz­de­par­te­ment be­grün­det sei­nen Spit­zen­platz da­mit, dass es in der bei ihm an­ge­sie­del­ten zen­tra­len Be­schaf­fungs­stel­le ge­ne­rell über­durch­schnitt­lich vie­le Be­schaf­fun­gen ge­be. Zu­dem ent­fal­le ein gros­ser Teil der frei­hän­di­gen Ver­ga­ben, näm­lich de­ren 35, auf das Pro­jekt In­sie­me der Steu­er­ver­wal­tung. Die Ver­stös­se ge­gen das Be­schaf­fungs­recht im Rah­men von In­sie­me ha­ben Amts­di­rek­tor Urs Ur­sprung vor drei Wo­chen den Pos­ten ge­kos­tet.

Neben den Auf­trä­gen für In­sie­me hat die Steu­er­ver­wal­tung 2011 al­ler­dings fünf wei­te­re Ver­ga­ben über dem Schwel­len­wert frei­hän­dig ge­tä­tigt, die vom Fi­nanz­de­par­te­ment im Nach­hin­ein als hei­kel be­ur­teilt wor­den sind. Die Fra­ge, in wel­chem Zu­sam­men­hang die­se Ver­ga­ben statt­fan­den, be­ant­wor­tet die Steu­er­ver­wal­tung nicht.

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Jeden Tag ein freihändiger Vertrag

In den Departementen von Eveline Widmer-Schlumpf und Johann Schneider-Ammann sind die Vergaben unter der Hand am umfangreichsten. Ueli Maurer hingegen dämmte die umstrittene Praxis ein.

Von Christian Brönnimann, Bern
Widmer & Schneider
Unter ihnen wird vieles ohne Ausschreibung vergeben: Die Bundesräte Eveline Widmer-Schlumpf und Johann Schneider-Ammann.
Foto: Peter Schneider (Keystone)

In­for­ma­tio­nen über die Be­schaf­fungs­pra­xis des Bun­des sind rar. Die De­par­te­men­te hän­gen die Zah­len da­zu lie­ber nicht an die gros­se Gloc­ke, und seit meh­re­ren Jah­ren hat der Bund kei­ne Be­schaf­fungs­sta­tis­tik mehr ver­öf­fent­licht. Eine An­fra­ge des «Ta­ges-An­zei­gers» un­ter Be­ru­fung auf das Öf­fent­lich­keits­ge­setz an die Bun­des­ver­wal­tung zeigt nun erst­mals, wie oft in den sie­ben De­par­te­men­ten Auf­trä­ge oh­ne öf­fent­li­che Aus­schrei­bung ver­ge­ben wer­den, ob­wohl die Auf­trags­sum­me über dem WTO-Schwel­len­wert von 230'000 Fran­ken liegt.

Ge­mäss der Zu­sam­men­stel­lung der Bun­des­kanz­lei ver­ga­ben die Bun­des­stel­len 2011 durch­schnitt­lich einen sol­chen frei­hän­di­gen Auf­trag pro Tag. Das Vo­lu­men be­trug to­tal rund 376 Mil­lio­nen Fran­ken. Am häu­fig­sten wa­ren Frei­hand­ver­ga­ben im Fi­nanz­de­par­te­ment (EFD) von Eve­li­ne Wid­mer-Schlumpf.

35 Vergaben allein für Insieme

Ein EFD-Spre­cher er­klärt die ho­he Zahl da­mit, dass die zen­tra­le Be­schaf­fungs­stel­le, das Bun­des­amt für Bau­ten und Lo­gis­tik (BBL), im Fi­nanz­de­par­te­ment an­ge­sie­delt sei und des­halb «ge­ne­rell über­pro­por­tio­nal vie­le Be­schaf­fungs­ge­schäf­te» an­fie­len. Die de­par­te­ments­über­grei­fen­de Be­schaf­fungs­sta­tis­tik, die dies be­le­gen könn­te, ist der­zeit nicht zu­gäng­lich. Das da­für zu­stän­di­ge BBL kün­digt auf sei­ner Web­si­te an, dass die Sta­tis­tik «dem­nächst» ver­öf­fent­licht wer­de.

Die zwei­te Ur­sa­che für die Spit­zen­po­si­tion des EFD ist das In­for­ma­tik­pan­nen­pro­jekt In­sie­me der Steu­er­ver­wal­tung. Die miss­bräuch­li­che Ver­ga­be­pra­xis bei In­sie­me, die Amts­chef Urs Ur­sprung den Pos­ten ge­kos­tet hat und de­ret­we­gen die Bun­des­an­walt­schaft er­mit­telt, be­in­hal­te­te al­lein im ver­gan­ge­nen Jahr 35 frei­hän­di­ge Ver­ga­ben über dem Schwel­len­wert.

Die wich­tigs­te Aus­nah­me­klau­sel für die Frei­hand­ver­ga­ben im EFD ist ge­mäss dem Spre­cher die­je­ni­ge, die be­sagt, dass ein Auf­trag we­gen spe­zi­fi­scher tech­ni­scher Vor­ga­ben oder we­gen des Schut­zes geis­ti­gen Eigen­tums nur an einen be­stimm­ten Auf­trag­neh­mer ver­ge­ben wer­den kann. Die­se Aus­nah­me­re­ge­lung greift bei­spiels­wei­se dann, wenn eine ex­ter­ne Fir­ma be­reits Vor­ar­bei­ten ge­leis­tet hat.

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Maurer habe «durchgegriffen»

Das zweit­gröss­te Vo­lu­men bei den frei­hän­di­gen Ver­ga­ben über dem Schwel­len­wert fin­det sich in Jo­hann Schnei­der-Am­manns Volks­wirt­schafts­de­par­te­ment (EVD). Hier fällt auf, dass sich der Wert 2011 (74 Mil­lio­nen Franken) ge­gen­über 2009 — da­mals stand das EVD noch un­ter der Füh­rung von Do­ris Leut­hard — mehr als ver­drei­facht hat. Ein De­par­te­ments­spre­cher woll­te auf An­fra­ge kei­ne Er­klä­rung da­für ab­ge­ben.

Auch beim Aus­sen­de­par­te­ment (EDA), des­sen Amts­stel­len 2011 am dritt­meis­ten frei­hän­dig ver­ge­ben ha­ben, blieb eine ent­spre­chen­de An­fra­ge un­be­ant­wor­tet.

Auf­fäl­lig ist die Ent­wick­lung im Ver­tei­di­gungs­de­par­te­ment (VBS) von Ueli Mau­rer. 2011 wur­den Auf­trä­ge im Wert von «nur» 27 Mil­lio­nen Fran­ken un­ter der Hand ver­ge­ben — vier­mal we­ni­ger als zwei Jah­re zu­vor. Eine Spre­che­rin führt dies di­rekt auf den Füh­rungs­stil Mau­rers zu­rück. «Der Chef VBS hat mit sei­nen durch ihn er­teil­ten In­spek­tio­nen durch­ge­grif­fen und sei­ne Di­rekt­un­ter­stell­ten schon früh dar­auf sen­si­bi­li­siert», kon­sta­tiert sie. Nicht nur kla­re Vor­ga­ben, son­dern auch pe­rio­di­sche Kon­trol­len hät­ten zu einer Ver­bes­se­rung ge­führt. Mau­rer hat­te letz­tes Jahr un­ter an­de­rem an­ge­ord­net, dass sei­ne Mit­ar­bei­ter al­le neu­en Dienst­leis­tungs­ver­trä­ge bei ihm mel­den müs­sen.

Vom Ziel noch weit entfernt

«Die Ausnahmen lassen Ermessensspielraum offen, was Missbräuche ermöglicht.» Christoph Jäger, Jurist.

Nicht je­de Ver­ga­be oh­ne Aus­schrei­bung ist prob­le­ma­tisch. Dar­auf po­chen die De­par­te­men­te, und auch un­ab­hän­gi­ge Ex­per­ten an­er­ken­nen dies. «Es gibt Fäl­le, in wel­chen eine Di­rekt­ver­ga­be ab­so­lut rechts­kon­form und zu­dem auch güns­ti­ger ist», sagt der auf das öf­fent­li­che Be­schaf­fungs­we­sen spe­zia­li­sier­te Ju­rist Chris­toph Jä­ger. Denn eine WTO-Aus­schrei­bung sei im­mer mit einem ge­wis­sen Auf­wand ver­bun­den. Dies al­lei­ne recht­fer­ti­ge eine frei­hän­di­ge Ver­ga­be aber nor­ma­ler­wei­se nicht, so Jä­ger. «Die Aus­nah­me­be­stim­mun­gen im Ge­setz las­sen einen re­la­tiv gros­sen Er­mes­sens­spiel­raum of­fen, was Miss­bräu­che er­mög­licht.»

Die Auf­sichts­gre­mi­en wün­schen sich denn auch, dass der Bund die Ver­ga­ben oh­ne Aus­schrei­bung re­du­ziert. Die Vor­tei­le or­dent­li­cher Be­schaf­fun­gen ge­mäss der Eid­ge­nös­si­schen Fi­nanz­kon­trol­le: Sie füh­ren «all­ge­mein zu Ein­spa­run­gen» und wei­sen ein tie­fe­res Kor­rup­tions­ri­si­ko auf. Auch Ju­rist Jä­ger ist der Mei­nung, dass sich Aus­schrei­bun­gen in der Re­gel aus­zah­len, da Hof­lie­fe­ran­ten da­zu neig­ten, das Preis-Leis­tungs-Ver­hält­nis zu ih­ren Guns­ten zu ver­schie­ben.

Der Prä­si­dent der par­la­men­ta­ri­schen Fin­anz­de­le­ga­tion (Fin­del), Urs Schwal­ler, for­mu­lier­te jüngst das Ziel, dass Frei­hand­ver­ga­ben über dem Schwel­len­wert höchs­tens 2 Pro­zent vom To­tal der be­zo­ge­nen Lie­fe­run­gen und Leis­tun­gen des Bun­des aus­ma­chen soll­ten. Da­von ist die Bun­des­ver­wal­tung noch weit ent­fernt: Die Fin­del hat be­rech­net, dass ak­tu­ell zwi­schen 7 und 8 Pro­zent al­ler Zah­lun­gen für kom­mer­zi­el­le Be­schaf­fun­gen un­ter der Hand ver­ge­ben wer­den. Da­bei, so das Fa­zit, wer­de das Be­schaf­fungs­recht nicht im­mer ein­ge­hal­ten.

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Gärtchendenken in den Ämtern

Der Bun­des­rat, dem die Fin­del im letz­ten Tä­tig­keits­be­richt eine Lais­sez-faire-Hal­tung vor­warf, ge­lobt in­zwi­schen of­fen­siv Bes­se­rung. Denn mit dem Fall Ur­sprung ist der öf­fent­li­che Druck ge­wach­sen. Nach ih­rer Sit­zung von letz­ter Wo­che teil­te die Re­gie­rung mit, sie habe «die Kon­se­quen­zen aus In­sie­me ge­zo­gen» und die Ar­bei­ten am de­par­te­ments­über­grei­fen­den Be­schaf­fungs­con­trol­ling «wei­ter kon­kre­ti­siert». Ge­plant ist eine Soft­wa­re für das Ver­trags­ma­na­ge­ment in al­len De­par­te­men­ten.

Ge­gen das Con­trol­ling regt sich al­ler­dings ver­wal­tungs­in­ter­ner Wi­der­stand. Der «De­par­te­ments­fö­de­ra­lis­mus» wer­de an al­len Fron­ten un­ge­mein ver­tei­digt, sagt ein lang­jäh­ri­ger Mit­ar­bei­ter einer zen­tra­len Stel­le der Bun­des­ver­wal­tung. De­par­te­ments- und Amts­lei­ter un­ter­näh­men al­les, da­mit ihr «Gärt­chen» nicht an­ge­tas­tet wer­de. Auf den Punkt ge­bracht lau­te in vie­len Amts­stu­ben die Ma­xi­me, sich ja nicht in die Kar­ten blic­ken oder in die eige­nen Ge­schäf­te hin­ein­re­den zu las­sen. Des­halb, so der In­si­der, ha­be es das Be­schaf­fungs­con­trol­ling in der Bun­des­ver­wal­tung so schwer.

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Die korrupte Schweiz

Unser Land geniesst den Ruf, arm an Bestechung zu sein. Der Insieme- und der BVK-Skandal zeigen nun: Auch in der Schweiz läuft einiges wie geschmiert.

Von Thomas Knellwolf
neue Drohung

Am An­fang war ein Ge­fal­len. Und für den Ge­fal­len gab es eine Ge­gen­leis­tung. Am En­de, Jah­re spä­ter, war es der Bie­ler Ghü­der­män­ner-Fall. Zwei An­ge­stell­te der städ­ti­schen Keh­richt­ab­fuhr hat­ten sich mit dem Be­sit­zer eines Blu­men­la­dens da­rauf ver­stän­digt, die Ab­fall­con­tai­ner zu lee­ren, auch wenn kei­ne Vig­net­ten an den Säc­ken kleb­ten. Da­für be­ka­men sie je­des Mal ein paar Fran­ken — und Ap­pe­tit auf mehr.

Nach der ers­ten Gra­tis­ent­sor­gung ver­strich fast ein Jahr­zehnt, bis die Ghü­der­män­ner vor dem Kreis­ge­richt Biel-Ni­dau stan­den. «Wir ha­ben Mist ge­baut», ge­stand einer der bei­den. «Die Aus­nah­me wur­de ir­gend­wann zur Re­gel.»

Im­mer wie­der hat­ten sich der Chauf­feur und sein Bei­fah­rer zum Kaf­fee samt währ­schaf­tem Znü­ni ein­la­den las­sen. Auch der Ab­fall des spen­dab­len Ca­fés lan­de­te je­weils oh­ne Mar­ken in ih­rem Las­twa­gen. Vom FC Biel gab es zwei Sai­son­abon­ne­ments. Da­für drück­ten die Ghü­der­män­ner je ein Auge zu, wenn sie die Hin­ter­las­sen­schaft an­de­rer Match­be­su­cher ent­sorg­ten. Oh­ne Kos­ten­fol­ge.

Sie wür­den es viel­leicht heu­te noch tun, wenn nicht plötz­lich die Stadt Biel die Tou­ren ih­rer Keh­richtvequi­pen an­ders ver­teilt hät­te. So­fort fiel den Kol­le­gen auf, dass beim Ab­fall des Flo­ris­ten, des Ca­fés, beim Fuss­ball­sta­dion und an vie­len an­de­ren Or­ten Vig­net­ten fehl­ten. Der Vor­ge­setz­te wur­de ein­ge­schal­tet und die Po­li­zei; das Duo wur­de ver­haf­tet, ent­las­sen und vor Ge­richt ge­stellt. Bei­de be­ka­men ein Jahr be­dingt.

Ein ver­gleichs­wei­se harm­lo­ses Bei­spiel — und ge­ra­de des­we­gen ein ty­pi­sches. In der Schweiz kommt es ge­mäss der po­li­zei­li­chen Kri­mi­na­li­täts­sta­tis­tik je­des Jahr zu zwan­zig und mehr neu­en Kor­rup­tions­ver­fah­ren. Die Zah­len aus den Kan­to­nen sind er­staun­lich kon­stant: 2009 wa­ren es 24 Fäl­le, 2010 de­ren 21 und ver­gan­ge­nes Jahr 20.

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Deliktsumme häufig vierstellig

Schmier­geld fliesst. Auch in der Schweiz. Doch die we­nig­sten Fäl­le er­re­gen über die Ge­mein­de- oder Kan­tons­gren­zen hin­aus Auf­se­hen. Nur sel­ten för­dern Er­mitt­lun­gen Spek­ta­ku­lä­res zu­ta­ge wie der kürz­lich auf­ge­flo­ge­ne In­sie­me-Fall im Fi­nanz­de­par­te­ment des Bun­des oder die Kor­rup­tions­af­fä­re um die Pen­sions­kas­se BVK, die seit ges­tern vor dem Be­zirks­ge­richt Zü­rich ver­han­delt wird. In bei­den Fäl­len, die der­zeit Schlag­zei­len ma­chen, sind mitt­le­re Ver­wal­tungs­ka­der be­schul­digt; bei­de Ma­le geht es um In­ves­ti­tio­nen in Mil­lio­nen­hö­he.

Korruption made in Switzerland heisst meist: Der Bestochene ist ein Angestellter.

Der Nor­mal­fall der Kor­rup­tion ma­de in Swit­zer­land sieht an­ders aus: Oft sind die Be­sto­che­nen ein­fa­che An­ge­stell­te auf un­te­ren Hier­ar­chie­stu­fen. Häu­fig bleibt die De­likt­sum­me vier­stel­lig, sel­ten über­schrei­tet sie 25'000 Fran­ken. Die Bie­ler Ghü­der­män­ner wa­ren mit ih­rem il­le­ga­len Ne­ben­er­werb fast schon Gross­ver­die­ner. Sie kas­sier­ten ge­mein­sam mehr als 100'000 Fran­ken.

Ohne die klei­nen Fäl­le gibt es laut Ex­per­ten auch we­ni­ger gros­se. Oh­ne gros­se we­ni­ger klei­ne. Vie­les ist eine Fra­ge der At­mos­phä­re am Ar­beits­platz. Die Ba­sis in einem Amt oder einer Fir­ma ist eher be­reit, Schmier­geld an­zu­neh­men, wenn sie das Ge­fühl hat, dass die Spit­ze sich auch be­dient. Ge­ra­de des­we­gen be­un­ru­higt der Fall In­sie­me Jean-Pier­re Méan, den Prä­si­den­ten von Trans­pa­ren­cy In­ter­na­tio­nal Schweiz. «Wenn ein so ho­her Be­am­ter des Bun­des sich die Frei­heit nimmt, das Ge­setz über das Be­schaf­fungs­we­sen zu ig­no­rie­ren», sagt Méan mit Blick auf den zu­rück­ge­tre­te­nen Chef der Steu­er­ver­wal­tung, Urs Ur­sprung, «kann man da­raus schlies­sen, dass es einer ge­wis­sen Kul­tur ent­spricht. Je­den­falls muss man das un­ter­su­chen.»

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Zu­frie­den­heit im Bü­ro und ein gu­tes Kli­ma sind die bes­ten Kor­rup­tions­bloc­ker. Prob­le­ma­tisch ist es, wenn Vor­ge­setz­te mit schlech­tem Bei­spiel vor­an­ge­hen — wie bis vor kur­zem bei der ju­ras­si­schen Po­li­zei. Zwei Kom­man­dan­ten in Fol­ge be­zo­gen ih­re Pri­vat­autos mit «Be­hör­den­ra­batt»: 16 Pro­zent bil­li­ger. Der eine Kom­man­dant gönn­te sich je­des Jahr den neues­ten BMW. Als er des­we­gen ver­ur­teilt wur­de, war er be­reits pen­sio­niert. Sein Nach­fol­ger trat letz­tes Jahr we­gen der BMW-Af­fä­re und wei­te­rer Vor­wür­fe von sei­nem Amt zu­rück. «Der Ju­ra hat kei­nen Scha­den er­lit­ten», be­haup­te­te der äl­te­re der Be­schul­dig­ten vor Ge­richt.

Ein Trug­schluss. Kor­rup­tion wird zwar als «op­fer­lo­ses De­likt» be­zeich­net. Doch das Ge­gen­teil ist der Fall. Al­le, aus­ser die Tä­ter, sind Op­fer. «Ge­schä­digt durch Kor­rup­tion in der Ver­wal­tung wer­den nor­ma­ler­wei­se die Steu­er­zah­ler», sagt Si­mo­ne Lerch, Ana­lys­tin beim Bun­des­amt für Po­li­zei (Fedpol). «Ihr Geld wird nicht best­mög­lich in­ves­tiert.» Ge­prellt wer­den aber ins­be­son­de­re die Kon­kur­ren­ten des An­bie­ters, der we­gen sei­nes Schmier­gelds einen Auf­trag zu­ge­schanzt er­hält.

Doch kei­nes der vie­len Op­fer ahnt, dass es Op­fer ge­wor­den ist. «An­ders als bei einem Hand­ta­schen­raub wird kei­ne An­zei­ge er­stat­tet», er­klärt Lerch. Ent­spre­chend hoch ist die Dun­kel­zif­fer — in der Ver­wal­tung und noch mehr in der Pri­vat­wirt­schaft, wo nur we­ni­ge Fäl­le auf­flie­gen. Ge­schieht dies, ist oft die Be­weis­füh­rung schwie­rig. Be­ste­chen­de und Be­sto­che­ne hin­ter­las­sen meist we­nig Spu­ren. Nur dum­me Kor­rup­te ver­bu­chen Schwarz­geld­flüs­se und stel­len Quit­tun­gen aus.

Auf den Rang­lis­ten der ko­rrup­tes­ten Staa­ten lan­det die Schweiz stets auf hin­te­ren Plät­zen — ob­wohl es für die un­durch­sich­ti­ge Par­tei­en-, Wahl- und Ab­stim­mungs­fi­nan­zie­rung je­weils reich­lich Plus­punk­te gibt. Zehn Ver­ur­tei­lun­gen pro Jahr we­gen Ur­kun­den­fäl­schung im Amt und ähn­li­che De­lik­te rei­chen nicht für einen Platz wei­ter vor­ne.

In drei Be­rei­chen ist die Ver­wal­tung laut einer La­ge­ana­ly­se des Fedpol be­son­ders an­fäl­lig für Kor­rup­tion: wo sie Auf­träge ver­gibt. Wo sie be­wil­ligt. Wo sie büsst und straft.

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Eifersucht ist eine grosse Gefahr

Schwei­zer Kor­rup­tions­skan­da­le der jün­ge­ren Zeit be­tref­fen oft den Be­reich, des­sen Na­me nach mas­sen­haft Bü­ro­kra­tie klingt: das Be­schaf­fungs­we­sen. In­sie­me ist nur ein Bei­spiel. Ein an­de­res ist das Netz­werk, das sich der frü­he­re Chef der Haus­tech­nik der Ecole Po­ly­tech­ni­que Fé­dé­ra­le de Lau­san­ne (EPFL) auf­ge­baut hat­te. Er be­vor­zug­te rund ein Dut­zend Hand­wer­ker, die ihm je­weils 10 Pro­zent der Auf­trags­sum­me per­sön­lich zu­kom­men lies­sen. Ins­ge­samt wa­ren es ge­gen 300'000 Fran­ken. Sol­che Kick­backs sind ein Klas­si­ker der Kor­rup­tion. Von 1982 bis 2003 funk­tio­nier­te das Sys­tem des EPFL-Haus­tech­ni­kers. Bis die Ehe­frau eines in­vol­vier­ten Hand­wer­kers An­zei­ge er­stat­te­te.

Part­ner­schaf­ten und Eifer­sucht sind ge­fähr­lich: Ein An­ge­stell­ter eines Hoch­bau­amts in einer Klein­stadt be­kam von einem Bau­un­ter­neh­mer eine Woh­nung für Sei­ten­sprün­ge zu Ver­fü­gung ge­stellt. Als er sei­ner Stun­den­lie­be den Lauf­pass ge­ge­ben hat­te, räch­te sich die Ver­las­se­ne, in­dem sie ihn ver­petz­te.

Bei den Be­wil­li­gun­gen und Be­schei­ni­gun­gen, dem zwei­ten kor­rup­tions­an­fäl­li­gen Be­reich, geht es oft um den Kauf von Auf­ent­halts- und Ein­rei­se­be­wil­li­gun­vvvgen. Vi­sa in Schwei­zer Bot­schaf­ten auf meh­re­ren Kon­ti­nen­ten wur­den in den letz­ten Jah­ren ge­gen Schmier­geld ver­ge­ben.

Kor­rup­tions­ge­fahr ist auch dann im Ver­zug, wenn Staats­an­ge­stell­te in je­nem Be­reich ver­keh­ren, für das sie be­ruf­lich zu­stän­dig sind. Zahl­reich sind die Bei­spie­le aus dem Rot­licht­mi­lieu. Eine ge­wis­se Dreis­tig­keit an den Tag leg­te im Jahr 2000 je­ner Zür­cher Be­am­te, der die Red-Lips-Af­fä­re aus­lös­te. Der An­ge­stell­te des städ­ti­schen Ar­beits­am­tes, zu­stän­dig für Be­wil­li­gun­gen, kün­dig­te, um bei einem Ca­ba­ret als stell­ver­tre­ten­der Club­ma­na­ger ein­zu­stei­gen. Er hei­ra­te­te eine Strip­pe­rin aus Ru­mä­ni­en, die in einem der Lo­ka­le sei­nes künf­ti­gen Chefs tä­tig war. Zu sei­nen letz­ten Amts­hand­lun­gen ge­hörte es, für sei­nen künf­ti­gen Ar­beit­ge­ber einen An­trag aus­zu­ar­bei­ten, um das Tän­ze­rin­nen­kon­tin­gent zu er­hö­hen. Ver­ur­teilt wur­de er schliess­lich, weil ihm in den Nacht­clubs in gros­sem Stil Al­ko­ho­li­ka spen­diert wur­den. Die Ver­tei­di­gung mach­te oh­ne Er­folg gel­tend, dies sei bran­chen­üb­li­che «Kli­ma­pfle­ge».

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Ähn­lich gut ge­hen lies­sen es sich zwei An­ge­stell­te des So­lo­thur­ner Amts für Aus­län­der­fra­gen. Ein Ad­junkt ging im Ca­ba­ret «The King’s Clubs» in Zuch­wil ein und aus — und wur­de dort ho­fiert wie ein klei­ner Prinz. Ge­gen Gra­tis­ver­pfle­gung warn­te er den Lo­kal­be­trei­ber vor Raz­zi­en. Ein Sek­re­tär des­sel­ben Am­tes nahm Diens­te von Pros­ti­tu­ier­ten in An­spruch — oh­ne zu be­zah­len. Ein­mal tat er dies auch, als er eine Aus­schaf­fung nach Is­tan­bul be­glei­te­te. Das So­lo­thur­ner Ober­ge­richt ver­ur­teil­te 2002 den Ad­junk­ten zu vier Mo­na­ten Ge­fäng­nis be­dingt und den Sek­re­tär zu zwei Wo­chen. Bei­de wur­den für zwei Jah­re für amts­un­fä­hig er­klärt.

Der drit­te kor­rup­tions­an­fäl­li­ge Be­reich einer Ver­wal­tung, die Bus­sen und Stra­fen, scheint in der Schweiz ein eher har­tes Pflas­ter für Tä­ter zu sein. Dies muss­te ein Wil­de­rer aus dem So­lo­thur­ner Be­zirk Thal-Gäu er­fah­ren. Als er er­tappt wur­de, woll­te er den Wild­hü­ter da­zu brin­gen, auf eine Ver­zei­gung zu ver­zich­ten. Er bot ihm ein il­le­gal ge­schos­se­nes Reh an. Der Schuss ging nach hin­ten los. Im Jahr 2003 wur­de er we­gen Wi­der­hand­lung ge­gen das Wild- und das Wald­ge­setz zu einer be­ding­ten Ge­fäng­nis­stra­fe von vier Mo­na­ten ver­ur­teilt. Ähn­lich er­geht es oft Auto­fah­rern, die ih­ren Al­ko­hol­pe­gel mit einem Geld­schein sen­ken wol­len. Zu­sätz­lich zur Bus­se setzt es meist eine An­zei­ge ab.

Besser scheint es manch­mal in den Ge­fäng­nis­sen mit der Be­ste­chung zu klap­pen: In­sas­sen be­rich­ten im­mer wie­der, dort sei al­les, was un­ter­sagt und ver­bo­ten ist, zu er­ste­hen: Han­dys, Dro­gen, Al­ko­hol, Ana­bo­li­ka. Wär­ter und an­de­re An­ge­stell­te über­se­hen ge­gen Be­zah­lung sol­che Lie­fe­run­gen oder schmug­geln sel­ber.

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Kleinräumigkeit als Risiko

«Vet­ter­li­wirt­schaft» im Wort­sinn, in­ner­halb der Fa­mi­lie, bil­det die Aus­nah­me: Wer­den Ver­wand­te be­vor­zugt, fällt das auf — und er­weckt Neid. Ent­hül­lun­gen zu In­sie­me zei­gen, wie leicht es sich skan­da­li­sie­ren lässt, wenn ein Staats­an­ge­stell­ter mit An­ge­hö­ri­gen ge­schäf­tet.

«Frü­her war es fast un­denk­bar, dass bei einem Kan­tons­auf­trag ein aus­ser­kan­to­na­ler An­bie­ter den Zu­schlag er­hielt», sagt Jean-Pier­re Méan von Trans­pa­ren­cy In­ter­na­tio­nal Schweiz. «Heu­te ist es gang und gä­be.» Den­noch ist die Schweiz klein­räu­mig ge­blie­ben. Oft wer­den aus Be­kannt­schaf­ten Ge­schäfts­be­zie­hun­gen oder um­ge­kehrt. Es ent­ste­hen Freund­schaf­ten, Seil­schaf­ten, Ab­hän­gig­kei­ten, Filz, Kom­pli­zen. Harm­los fängt es an. Der Un­ter­neh­mer über­lässt dem Ver­wal­tungs­an­ge­stell­ten sein Fe­rien­do­mi­zil («Bin froh, wenn es nicht die gan­ze Zeit leer steht»), er lädt ihn zum Es­sen ein, schickt eine Kis­te Wein zu Weih­nach­ten. «So wird die Be­reit­schaft zu mehr aus­ge­tes­tet», sagt Si­mo­ne Lerch vom Fed­pol.

Wo be­ginnt die Kor­rup­tion? Man­cher­orts beim Bund gibt es eine Null­to­le­ranz: Kein Kaf­fee, kein Ku­gel­schrei­ber darf an­ge­nom­men wer­den. An­ge­hö­ri­ge der Bun­des­kri­mi­nal­po­li­zei, die Kor­rup­tions­fäl­le in der Bun­des­ver­wal­tung un­ter­su­chen, dür­fen sich nur ein­la­den oder be­schen­ken las­sen, wenn der Wert 50 Fran­ken nicht über­steigt. Al­les bis 100 Fran­ken muss in­tern ge­mel­det und be­wil­ligt wer­den. Al­les dar­über ist ta­bu.