TAGES ANZEIGER

Uniklinik schreibt auf Drängen der IV Gutachten um

Die IV hat mit fragwürdigen Methoden den früheren Rentenentscheid einer Patientin korrigiert.

Von René Staubli

Die In­va­li­den­ver­si­che­rung (IV) hat die Psy­chi­at­ri­sche Uni­ver­si­täts­kli­nik Zü­rich im ver­gan­ge­nen Sep­tem­ber da­zu ge­drängt, einen op­ti­mis­ti­schen Kli­nik­be­richt über die Ar­beits­fä­hig­keit einer IV-Klien­tin zu über­prü­fen und an­zu­pas­sen. Der zu­stän­di­ge Ar­beits­the­ra­peut gab dem Wunsch der Zür­cher IV-Stel­le nach und kehr­te die eige­ne Ex­per­ti­se ins Ne­ga­ti­ve um, oh­ne die Klien­tin noch ein­mal kon­sul­tiert zu ha­ben und oh­ne sie über die Ab­än­de­rung zu in­for­mie­ren.

Die IV ging noch einen Schritt wei­ter: Sie at­tes­tier­te der Klien­tin, die seit Jah­ren un­ter schwe­ren Rüc­ken­be­schwer­den lei­det, eine «schwe­re Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung», oh­ne sie psy­chi­at­risch be­gut­ach­tet und oh­ne sie über den gra­vie­ren­den Be­fund in­for­miert zu ha­ben. Ih­re «Diag­no­se» stützt die IV auf einen sie­ben Jah­re al­ten Be­richt. Die Klien­tin hat­te da­mals einem Arzt in der Schmerz­kli­nik des Uni­spi­tals von ih­rer schwie­ri­gen Ju­gend er­zählt. Von einer «schwe­ren Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung» steht in je­nem Be­richt kein Wort.

Hätte die IV-Stel­le der Klien­tin nur we­gen er­wie­se­ner Ar­beits­un­fä­hig­keit und oh­ne zu­sätz­li­che Diag­no­se eine Ren­te zu­ge­spro­chen, wä­re die Fra­ge auf­ge­taucht, wa­rum man sie 2010 ar­beits­fä­hig ge­schrie­ben und ihr die Ren­te ab­er­kannt hat­te. Nach­dem die Klien­tin sechs Jah­re lang eine vol­le IV-Ren­te be­zo­gen hat­te, war ihr die­se nach einer Be­gut­ach­tung ge­stri­chen wor­den. Zwar hat­te der Gut­ach­ter da­mals die Mei­nung ver­tre­ten, die Klien­tin sei in ih­rer an­ge­stamm­ten Tä­tig­keit als Be­treue­rin in Be­hin­der­ten­werk­stät­ten voll­stän­dig ar­beits­un­fä­hig. Den­noch ent­schied er, sie kön­ne in einer an­ge­pass­ten Tä­tig­keit 80 Pro­zent ar­bei­ten, wor­auf die IV die Ren­te kapp­te (TA vom 14. September 2011).

Integration scheiterte

In der Fol­ge schei­ter­ten die Be­mü­hun­gen, die 59-Jäh­ri­ge in den Ar­beits­pro­zess zu in­teg­rie­ren. Im Ok­to­ber sprach ihr die IV des­halb wie­der eine vol­le Ren­te zu — mit der Be­grün­dung, sie sei nicht we­gen ih­res Rüc­ken­lei­dens ar­beits­un­fä­hig, son­dern we­gen der «schwe­ren Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung».

IV-Spre­che­rin Da­nie­la Aloi­si be­stä­tigt die Bit­te zur «Über­prü­fung», er­klärt aber, der Fall sei ein Be­leg da­für, dass die IV-Stel­le nicht auf ih­rem ur­sprüng­li­chen Ent­scheid be­harrt ha­be: «Wir sind der sich ver­änd­ern­den Si­tua­tion mit der nö­ti­gen Of­fen­heit und Fle­xi­bi­li­tät mit neu­en Ent­schei­den ge­recht ge­wor­den.»

Die Psy­chi­at­ri­sche Uni­ver­si­täts­kli­nik be­ant­wor­te­te die Frage nicht, ob es üb­lich sei, Be­rich­te auf Drän­gen der IV um­zu­schrei­ben.

Kommentar Seite 2, Bericht Seite 11

* * *

TAGES ANZEIGER
TOP

Kommentar

René Staubli

René Staubli, Reporter, über die Methoden der IV Zürich und der Psychiatrischen Uniklinik.

Der Zweck heiligt nicht jedes Mittel

Einer von Rüc­ken­schmer­zen ge­plag­ten Frau wird nach sechs­jäh­ri­ger Be­zugs­dau­er die IV-Ren­te ge­stri­chen. Beim Ver­such der Wie­der­ein­glie­de­rung in den Ar­beits­pro­zess zeigt sich, dass je­ner Ent­scheid nicht ver­tret­bar war. Um der 59-Jäh­ri­gen trotz­dem wie­der eine Ren­te zu­spre­chen zu kön­nen, grei­fen die Zür­cher IV-Stel­le und die Psy­chi­at­ri­sche Uni­kli­nik zu frag­wür­di­gen Me­tho­den: Sie dre­hen einen po­si­ti­ven Ar­beits­fä­hig­keits­be­richt ins Ne­ga­ti­ve um und schrei­ben der Klien­tin eine schwe­re psy­chi­sche Stö­rung zu. Kri­ti­sche Fra­gen zu den Vor­gän­gen wer­den nur se­lek­tiv be­ant­wor­tet. Die IV-Stel­le er­klärt, man ha­be le­dig­lich Fle­xi­bi­li­tät be­wie­sen und im In­ter­es­se der Klien­tin ge­han­delt, denn die­se sei ja nun aus ih­rer ma­te­ri­el­len Not er­löst.

So einfach geht es na­tür­lich nicht; der Zweck hei­ligt nicht je­des Mit­tel. Die IV und die Psy­chi­at­ri­sche Uni­ver­si­täts­kli­nik sind In­sti­tu­tio­nen, die vom Ver­trau­en der Öf­fent­lich­keit le­ben. Die­ses Ver­trau­en wird arg stra­pa­ziert, wenn Un­ter­su­chungs­be­rich­te und me­di­zi­ni­sche Ein­schät­zun­gen ein­fach so um­ge­schrie­ben wer­den.

Zwar ha­ben sich dies­mal die Hand­lun­gen zu­min­dest fi­nan­zi­ell zu­guns­ten der Klien­tin aus­ge­wirkt. Man fragt sich aber, ob es auch ge­gen­tei­li­ge Bei­spie­le gibt. Und auch in die­sem Fall be­steht der be­grün­de­te Ver­dacht, dass die IV so­wohl bei der Aber­ken­nung der Ren­te im Jahr 2010 wie bei der Zu­spre­chung im ver­gan­ge­nen Ok­to­ber nicht auf sach­li­cher Grund­la­ge ent­schie­den hat. Dass sich die Ver­ant­wort­li­chen der bei­den In­sti­tu­tio­nen zu zen­tra­len Fra­gen nicht äus­sern, macht miss­trau­isch.

Über den Ein­zel­fall hin­aus wirft das Vor­ge­hen grund­sätz­li­che Fra­gen auf: Bei den me­di­zi­ni­schen Be­gut­ach­tun­gen de­fi­niert die IV stets die theo­re­ti­sche Ar­beits­fä­hig­keit eines ge­sund­heit­lich an­ge­schla­ge­nen Klien­ten. Ob die­se theo­re­ti­sche Ar­beits­fä­hig­keit dann auch aus­reicht, um in der rea­len Ar­beits­welt einen Job zu fin­den, küm­mert die IV we­nig — wenn die In­teg­ra­tion nicht klappt, sind ja im­mer noch die So­zi­al­äm­ter da. In der lau­fen­den Re­vi­si­on 6a will die IV 17'000 Per­so­nen die Ren­te strei­chen und sie in den Ar­beits­markt re­in­teg­rie­ren. Man wird ihr ge­nau auf die Fin­ger schau­en, wel­che Mit­tel sie da­bei an­wen­det.

* * *

TAGES ANZEIGER
TOP

Die zweifelhaften Methoden der IV

Die IV verlangte von der Psychiatrischen Uniklinik, im Fall von Elsbeth Isler einen Bericht umzuschreiben. Zudem diagnostizierte sie ohne Untersuchung eine «schwere Persönlichkeitsveränderung».

Von René Staubli
Widmer & Schneider
Die Gutachten, ob sie wieder arbeiten konnte, widersprachen sich: IV-Patientin Elsbeth Isler.
Foto: Reto Oeschger

Zürich — Els­beth Is­ler soll­te zu einem leuch­ten­den Bei­spiel wer­den. An ih­rem Fall woll­te die In­va­li­den­ver­si­che­rung (IV) zei­gen, wie leicht sich Men­schen wie­der in den Ar­beits­pro­zess in­teg­rie­ren las­sen, de­nen man die IV-Ren­te ab­er­kannt hat (sie­he un­ten).

Nach mehr als ein­jäh­ri­gen Be­mü­hun­gen steht Is­ler nun aber als Bei­spiel da­für, wie schwie­rig dies sein kann: Für die 59-jäh­ri­ge Fehr­al­tor­fe­rin konn­te die IV-Stel­le Zü­rich kei­ne Ar­beit fin­den. Seit kur­zem be­zieht sie wie­der eine vol­le IV-Ren­te. Im­mer­hin muss Is­ler kei­ne Exi­stenz­ängs­te mehr ha­ben — das ist die po­si­ti­ve Nach­richt. Ir­ri­tie­rend ist al­ler­dings, wel­che Me­thod­en die IV an­ge­wandt hat, um zu die­sem Er­geb­nis zu kom­men.

Der Fall Isler: Verlust der IV-Rente über Nacht

(res)

Els­beth Is­ler (59) aus Fehr­al­torf hat­te we­gen eines schwe­ren Rüc­ken­lei­dens und der da­mit ver­bun­de­nen Ar­beits­un­fä­hig­keit sechs Jah­re lang eine vol­le IV-Ren­te be­zo­gen. En­de 2009 er­hielt sie ein Auf­ge­bot ans Ärzt­li­che Be­gut­ach­tungs­in­sti­tut (ABI) in Ba­sel, wo sie von einem «flie­gen­den Gut­ach­ter» aus Wien un­ter­sucht wur­de. Die­ser ver­trat die Auf­fas­sung, sie sei zwar in ih­rer an­ge­stamm­ten Tä­tig­keit als Be­treue­rin in Be­hin­der­ten­werk­stät­ten voll­stän­dig ar­beits­un­fä­hig, kön­ne aber in einer an­ge­pass­ten kör­per­li­chen Tä­tig­keit ein Ar­beits­pen­sum von 80 Pro­zent be­wäl­ti­gen.

Das At­test hat­te Fol­gen: Die IV re­du­zier­te die vol­le Ren­te auf eine Vier­tel­ren­te, wo­durch Is­ler in fi­nan­zi­el­le Not ge­riet. Die IV hat­te mit ihr in den sechs Jah­ren nie ein Ge­spräch über Ein­glie­de­rungs­mass­nah­men ge­führt. Und nun teil­te ihr das Re­gio­na­le Ar­beits­ver­mitt­lungs­zent­rum (RAV) schon beim ers­ten Tref­fen mit, mit sol­chen Be­schwer­den sei sie im Ar­beits­markt nicht ver­mit­tel­bar.

Der TA pub­li­zier­te die­se Ge­schich­te am 14. Sep­tem­ber 2011. Da­mals liess die Zür­cher IV-Stel­le ver­lau­ten, sie wol­le ihr «brei­tes Netz­werk zu Ar­beit­ge­bern im Kan­ton» nut­zen, um Is­ler Ar­beit zu ver­schaf­fen.

Dass das schwie­rig wer­den wür­de, war ab­seh­bar. Denn 2009, un­mit­tel­bar vor der Ab­er­ken­nung der Ren­te, hat­te ein Fach­arzt fest­ge­hal­ten, un­ter wel­chen Um­stän­den Is­ler ar­beits­fä­hig wä­re: Sie kön­ne «nicht über dem Kopf oder in ge­bück­ter Hal­tung ar­bei­ten, höchs­tens 5 bis 10 kg he­ben, nicht län­ger als 5 Mi­nu­ten an einem Ort ste­hen, nicht län­ger als 15 Mi­nu­ten am Stück sit­zen und höchs­tens 10 Mi­nu­ten ge­hen», dies bei «re­gel­mäs­si­gen Pau­sen mit der Mög­lich­keit, sich hin­zu­le­gen und ent­spre­chend den Be­schwer­den ab­wechs­lungs­wei­se zu sit­zen, zu ge­hen und zu ste­hen».

Anfang Ap­ril 2012 un­ter­zog sich Is­ler in Ab­spra­che mit der IV einer vier­wö­chi­gen Ab­klä­rung ih­rer «Ar­beits- und Le­bens­si­tu­a­tion» an der Psy­chi­at­ri­schen Uni­ver­si­täts­kli­nik Zü­rich. In der Me­tall­grup­pe fer­tig­te sie künst­le­ri­sche Ge­gen­stän­de, be­glei­tet von einem Ar­beits­the­ra­peu­ten. Die­ser at­tes­tier­te ihr in sei­nem Schluss­be­richt vom 9. Mai trotz ho­her Schmerz­be­las­tung «eine ho­he Mo­ti­va­ti­on und gu­te Ar­beits­fä­hig­kei­ten». Um das Ziel einer «dau­er­haf­ten In­teg­ra­ti­on im all­ge­mei­nen Ar­beits­markt» zu ver­fol­gen, em­pfahl er «ein ge­eig­ne­tes Auf­bau- oder Be­las­tungs­trai­ning».

Dieses fand im Wis­li statt, einem Zen­trum für Wie­der­ein­glie­de­rung in Bü­lach. Dem Schluss­be­richt vom 22. Au­gust ist Fol­gen­des zu ent­neh­men: «Frau Is­ler di­gi­ta­li­siert seit sechs Wo­chen Da­tei­en. (…) Die­se Tä­tig­keit ent­spricht ihr und macht ihr Spass. (…) Sie ar­bei­tet sehr ge­nau, zu­ver­läs­sig und hat ein gu­tes Au­ge fürs De­tail.» Gleich­wohl ge­lang es nicht, ihr Ar­beit zu ver­mit­teln. Denn, so hiess es im Be­richt wei­ter: «Eine An­stel­lung im frei­en Ar­beits­markt, wo sie sich dem Ar­beits­rhyth­mus und den Rah­men­be­din­gun­gen eines Ar­beit­ge­bers an­pas­sen muss, be­trach­ten wir als un­rea­lis­tisch.» Das Wis­li em­pfahl der IV den Ab­bruch der Ein­glie­de­rungs­mass­nah­men und «die Ein­lei­tung der Ren­ten­prü­fung».

Damit kon­sta­tier­te auch das Wis­li-Team, was di­ver­se Fach­ärz­te schon 2009 fest­ge­stellt hat­ten: Is­ler war kör­per­lich zu sehr han­di­ca­piert, um auf dem Ar­beits­markt be­ste­hen zu kön­nen. Die­se Ex­per­ten­mei­nun­gen hat­te die IV da­mals bei­sei­te­ge­wischt.

TOP

Aus positiv wurde negativ

Der IV-Stel­le Zü­rich la­gen nun zwei dia­met­ral ent­ge­gen­ge­setz­te Ein­schät­zun­gen vor: Für die Uni­kli­nik war Is­ler zu 30 bis 40 Pro­zent er­werbs­fä­hig; der zu­stän­di­ge The­ra­peut sah durch­aus Chan­cen, sie in den Ar­beits­pro­zess zu in­teg­rie­ren. Das Wis­li hin­ge­gen ver­trat die ge­gen­tei­li­ge Auf­fas­sung. Was tun?

Die IV ge­lang­te er­neut an die Uni­kli­nik und for­der­te die Ver­ant­wort­li­chen auf, ih­re op­ti­mis­ti­sche Ein­schät­zung «zu über­prü­fen». Dies räumt Da­nie­la Aloi­si, Spre­cherin der IV-Stel­le Zü­rich, schrift­lich ein. Für die Uni­klinik war der Wunsch der IV Be­fehl. Der Ar­beits­the­ra­peut hol­te sei­nen sechs­sei­ti­gen Be­richt vom 9. Mai auf den Bild­schirm, dreh­te sei­ne Ein­schät­zun­gen ins Ne­ga­ti­ve und da­tier­te den an­sons­ten un­ver­än­der­ten Be­richt neu auf den 17. Sep­tem­ber. Is­ler er­fuhr da­von nichts.

Dem TA lie­gen die bei­den Ver­sio­nen in­teg­ral vor. Fol­gen­de Pas­sa­gen be­le­gen, welch gra­vie­ren­de Ver­än­de­run­gen der The­ra­peut an sei­nem Text vor­nahm:

Version 1: «Sie konn­te da­durch er­le­ben, dass ih­re Be­las­tungs­gren­zen sich teil­wei­se ver­än­der­ten und sie zu­dem ein grös­se­res Ge­fühl an Pro­duk­ti­vi­tät er­reich­te.» Ver­si­on 2: «Sie konn­te ih­re Be­las­tungs­gren­zen nicht er­wei­tern und nur kurz­zei­tig ein grös­se­res Ge­fühl an Pro­duk­ti­vi­tät er­rei­chen.»

Version 1: «In die­sem Zu­sam­men­hang er­kann­te Frau Is­ler, dass sie in der Aus­ein­an­der­set­zung mit In­sti­tu­tio­nen und der Durch­set­zung ih­rer In­ter­es­sen neue Stra­te­gi­en ent­wic­keln kann. In die­sem Pro­zess war sie of­fen für Be­ra­tun­gen.» Ver­si­on 2: «In die­sem Zu­sam­men­hang wirk­te Frau Is­ler in der Aus­ein­an­der­set­zung mit In­sti­tu­tio­nen und der Durch­set­zung ih­rer In­ter­es­sen starr, kon­fron­ta­tiv und teil­wei­se un­re­a­lis­tisch.»

Version 1: «Frau Is­ler konn­te ih­re durch Kampf ge­präg­te Rol­le und die ent­spre­chen­den Stra­te­gi­en über­prü­fen und er­wei­tern, er­leb­te da­durch ein deut­li­ches Ge­fühl der Pro­duk­ti­vi­tät und eine zu­sätz­li­che Druck­ent­las­tung.» Ver­si­on 2: «Frau Is­ler konn­te ih­re durch Kampf ge­präg­te Rol­le und die ent­spre­chen­den Stra­te­gi­en nicht ver­än­dern und er­leb­te durch die Teil­nah­me an Mo­dul A eine zu­sätz­li­che Be­las­tung ih­res All­tags.»

TOP

Nach­dem der The­ra­peut zu­erst fest­ge­hal­ten hat­te, dass Is­ler «bei kon­kre­ter An­pas­sung der Ar­beits­be­din­gun­gen an ih­re kör­per­li­chen Mög­lich­kei­ten» zu 30 bis 40 Pro­zent ar­beits­fä­hig sei, schrieb er nun: «Auch bei einer kon­kre­ten An­pas­sung der Ar­beits­be­din­gun­gen an ih­re kör­per­li­chen Mög­lich­kei­ten ist ak­tu­ell eine Rest­ar­beits­fä­hig­keit für eine dau­er­haf­te Tä­tig­keit in einem An­stel­lungs­ver­hält­nis am ers­ten Ar­beits­markt nicht er­kenn­bar.»

Uni­kli­nik-Spre­che­rin Zsu­zsan­na Kar­sai be­stä­tigt, dass man auf Wunsch der IV ge­han­delt ha­be. Die Fra­ge, ob es üb­lich sei, Be­rich­te so ab­zu­än­dern, be­ant­wor­te­te sie nicht und ver­wies an die IV. Die­se ver­wei­ger­te dem TA ein In­ter­view mit dem IV-Stel­len­lei­ter Marc Gy­sin.

TOP

Heimliche «Diagnose»

Nach­dem Is­lers «Ar­beits­un­fä­hig­keit» auf die­se Wei­se do­ku­men­tiert war, hät­te ihr die IV die Ren­te oh­ne wei­te­res wie­der zu­spre­chen kön­nen. Das al­ler­dings hät­te die Fra­ge auf­ge­wor­fen, wa­rum man Is­ler 2010 ar­beits­fä­hig ge­schrie­ben und ihr die Ren­te ab­er­kannt hat­te. In die­ser Si­tua­ti­on ging die IV-Stel­le noch einen Schritt wei­ter. Sie at­tes­tier­te Is­ler zwecks Be­grün­dung der Ren­te eine «schwe­re Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung» — oh­ne sie psy­chi­at­risch un­ter­sucht zu ha­ben. Von die­ser «Diag­no­se» er­fuhr Is­ler erst, als der TA mit­hil­fe ih­rer Voll­macht die IV-Ak­ten ein­ge­se­hen hat­te.

Im Do­ku­ment «Ver­laufs­pro­to­koll Ein­glie­de­rungs­be­ra­tung» vom 15. Ja­nu­ar 2013 ist Fol­gen­des fest­ge­hal­ten: «Wir ka­men zum Er­geb­nis, dass aus psy­chi­schen Grün­den die vP (ver­si­cher­te Per­son, die Red.) leis­tungs­ein­ge­schränkt ist und es sich bei ihr um eine schwe­re Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung han­delt, die uns schluss­end­lich ver­an­lass­te, die Ren­te wie­der zu­zu­spre­chen, da die zu­erst an­ge­nom­me­ne Ar­beits­fä­hig­keit lei­der nicht um­zu­set­zen ist.»

Für den Winter­thu­rer Rechts­an­walt und Ver­si­che­rungs­spe­zia­lis­ten Mas­si­mo Aliot­ta ist klar: «Eine so schwer­wie­gen­de Diag­no­se hät­te die IV nur stel­len kön­nen, wenn man die Klien­tin noch ein­mal me­di­zi­nisch be­gut­ach­tet und einen zu­sätz­li­chen Be­richt ver­fasst hät­te.» Das ge­schah nicht. Laut den IV-Ak­ten stütz­ten die zu­stän­di­ge Ärz­tin des re­gio­na­len ärzt­li­chen Diens­tes (RAD) so­wie die Sach­be­ar­bei­te­rin­nen der IV und des Wis­li ih­re «Diag­no­se» auf Aus­sa­gen, die Isl­er 2005 in der Schmerz­sprech­stun­de des Zür­cher Uni­spi­tals ge­macht hat­te: Sie ha­be in ih­rer Kind­heit un­ter der phy­si­schen und psy­chi­schen Ge­walt ih­res al­ko­hol­kran­ken Va­ters ge­lit­ten. Von einer «schwe­ren Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung» ist im Be­richt des Uni­spi­tals nir­gends die Re­de. Sie­ben Jah­re spä­ter zog die IV, wie aus den Ak­ten her­vor­geht, gleich­wohl den Schluss, es sei «sehr wahr­schein­lich», dass sich Is­lers kör­per­li­ches Lei­den «auf dem Bo­den der psy­chi­schen Stö­rung ent­wic­kelt hat und nicht um­ge­kehrt».

Für Is­ler ist die Sa­che zwie­späl­tig: «Ich bin froh, dass ich mei­ne IV-Ren­te wie­der be­kom­me und da­von le­ben kann. Aber es ist nicht leicht zu er­tra­gen, wenn man ein­fach so für psy­chisch schwer ge­stört er­klärt wird.»

* * *

TAGES ANZEIGER
TOP

Gutachten Es genügt nicht, wenn die Invalidenversicherung die Arbeitsfähigkeit nur theoretisch abklärt.
Von Andrea Fischer

Mehr Praxisnähe täte der IV gut

Fortarbeit
Arbeit mit hohem Unfallrisiko: Forstarbeiter beim Holzschlag im Kanton Glarus.
Foto: Gaëtan Bally (Keystone)

Und wie­der macht die In­va­li­den­ver­si­che­rung (IV) mit ne­ga­ti­ven Schlag­zei­len von sich re­den. Dies­mal muss sie sich vor­wer­fen las­sen, einen frü­he­ren Ent­scheid mit zwei­fel­haf­ten Me­tho­den kor­ri­giert zu ha­ben. Zu­erst hat­te die IV der heu­te 59-jäh­ri­gen Fehr­al­tor­fe­rin Els­beth Is­ler zu Un­recht die Ren­te ge­kürzt. Spä­ter at­tes­tier­te ihr die IV eine «schwe­re Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung» — oh­ne psy­chi­at­ri­sche Un­ter­su­chung (TA vom Mon­tag und Diens­tag). Die Tat­sa­che, dass die ge­sund­heit­lich schwer be­ein­träch­tig­te Els­beth Is­ler da­durch wie­der eine Ren­te er­hält, ent­schul­digt das Vor­ge­hen der IV kei­nes­wegs.

Doch bei al­ler Kri­tik zu den Um­stän­den des Ent­scheids muss man der IV zu­gu­te­hal­ten, dass sie im Fall Is­ler die Mög­lich­keit zur Wie­der­ein­glie­de­rung gründ­lich ab­ge­klärt hat. Sie hat sich nicht mit dem Be­fund ih­rer Gut­ach­ter be­gnügt, wel­che die frü­he­re Be­hin­der­ten­be­treue­rin trotz mas­si­ver, nach­ge­wie­se­ner Rüc­ken­be­schwer­den für ar­beits­fä­hig hiel­ten. Sie woll­te es ge­nau­er wis­sen und schritt des­halb zur prak­ti­schen Prü­fung.

In einer Wie­der­ein­glie­de­rungs­stät­te konn­te Els­beth Is­ler ih­re Er­werbs­fä­hig­kei­ten un­ter rea­len Be­din­gun­gen an­hand von ge­eig­ne­ten Tä­tig­kei­ten tes­ten las­sen. Und ob­wohl sie sich gros­se Mü­he gab, ka­men die Fach­leu­te der Ein­glie­de­rungs­stät­te zum Schluss, dass eine In­teg­ra­ti­on in den frei­en Ar­beits­markt un­re­alis­tisch sei. Die­ser Be­fund war schliess­lich aus­schlag­ge­bend für die IV, der Frau er­neut eine Ren­te zu­zu­spre­chen.

TOP

Keine Selbstverständlichkeit

Man soll­te mei­nen, dass eine prak­ti­sche Ab­klä­rung der Ar­beits­fä­hig­keit zum Stan­dard ge­hört, ins­be­son­de­re bei Per­so­nen, die schon län­ge­re Zeit aus dem Ar­beits­pro­zess aus­ge­schie­den sind. Dem sei aber bis­lang nicht so, sa­gen Fach­an­wäl­te.

Zwar sieht das Ge­setz zahl­rei­che Mass­nah­men vor, um die be­trof­fe­nen Per­so­nen bei der Wie­der­ein­glie­de­rung zu un­ter­stüt­zen. Doch es lässt den IV-Stel­len einen gros­sen Frei­raum, zu ent­schei­den, was sie im kon­kre­ten Fall für nütz­lich hal­ten. Oft stützt sich die IV le­dig­lich auf ihre Gut­ach­ter, wenn die­se den Klien­ten eine theo­re­ti­sche Ar­beits­fä­hig­keit at­tes­tie­ren. Doch ob die me­di­zi­nisch-theo­re­ti­sche Ar­beits­fä­hig­keit ef­fek­tiv re­ali­sier­bar ist, lässt sich letzt­lich nur un­ter re­alen Be­din­gun­gen fest­stel­len, wie selbst die IV-Stel­le Zü­rich ein­räumt. Die prak­ti­sche Über­prü­fung müss­te des­halb zur Re­gel wer­den in al­len Fäl­len, wo die IV eine be­ste­hen­de Ren­te nach meh­re­ren Jah­ren streicht oder kürzt.

Das wür­de die Ak­zep­tanz er­hö­hen: Denn wenn die von einer Ren­ten­kür­zung be­trof­fe­nen Per­so­nen da­mit rech­nen kön­nen, dass ih­re Ar­beits­fä­hig­keit un­ter re­alis­ti­schen Kon­di­tio­nen ab­ge­klärt wird, wer­den sie eher be­reit sein, zu ko­ope­rie­ren und auch einen ne­ga­ti­ven Ren­ten­ent­scheid zu ak­zep­tie­ren.

Für die IV birgt dies al­ler­dings das Ri­si­ko, dass ih­re Ren­ten­kür­zun­gen einer prak­ti­schen Über­prü­fung nicht stand­hal­ten. Das be­droht das ehr­gei­zi­ge Spar­ziel, das die Po­li­tik ihr auf­er­legt hat. Al­lein in den näch­sten bei­den Jah­ren muss die IV meh­re­re Tau­send Ren­ten strei­chen.

Doch die Be­völ­ke­rung misst die IV nicht nur da­ran, ob sie die Spar­zie­le recht­zei­tig er­füllt, son­dern auch, auf wel­che Wei­se sie die­se er­reicht. Sind sie recht­lich nicht ein­wand­frei zu­stan­de ge­kom­men, un­ter­gräbt das die Glaub­wür­dig­keit. Das kann sich die IV als staat­li­che In­sti­tu­ti­on nicht leis­ten.

* * *

TAGES ANZEIGER
TOP

Fall Elsbeth Isler: Wie die Aufsichtsorgane der Zürcher IV-Stelle und der Psychiatrischen Uniklinik mit Verantwortung umgehen.
Von René Staubli

Was nicht sein darf, kann nicht sein

Sechs Jah­re lang hat­te die 59-jäh­ri­ge Fehr­al­tor­fe­rin Els­beth Is­ler in­fol­ge Ar­beits­un­fä­hig­keit eine vol­le IV-Ren­te be­zo­gen. 2010 ent­schied die IV-Stel­le Zü­rich nach einer Be­gut­ach­tung, Is­ler sei zu 80 Pro­zent ar­beits­fä­hig — und kürz­te ihr die Ren­te auf ein Vier­tel. Als der Ver­such zur Wie­der­ein­glie­de­rung in den Ar­beits­markt schei­ter­te, sprach ihr die IV die vol­le Ren­te im ver­gan­ge­nen Ok­to­ber wie­der zu. Be­grün­dung: Sie sei nun doch nicht arbeits­fä­hig (TA vom 4. und 5. Feb­ru­ar).

Um den fal­schen Ent­scheid von 2010 zu ver­ne­beln, at­tes­tier­te die IV Is­ler eine «schwe­re Per­sön­lich­keits­ver­än­de­rung», oh­ne sie psy­chi­at­risch un­ter­sucht zu ha­ben. Aus­ser­dem wies die Ver­si­che­rung die Psy­chi­at­ri­sche Uni­kli­nik an, einen po­si­ti­ven Be­richt über Is­lers Ar­beits­fä­hig­keit ins Ne­ga­ti­ve zu dre­hen. Die Uni­kli­nik kam dem Wunsch nach, oh­ne die Klien­tin noch ein­mal zu kon­tak­tie­ren. Das las sich bei­spiels­wei­se so: Ver­sion 1: «In die­sem Zu­sam­men­hang er­kann­te Frau Is­ler, dass sie in der Aus­ein­an­der­set­zung mit In­sti­tu­tio­nen und der Durch­set­zung ih­rer In­ter­es­sen neue Stra­te­gi­en ent­wic­keln kann. In die­sem Pro­zess war sie of­fen für Be­ra­tun­gen.»

Version 2: «In die­sem Zu­sam­men­hang wirk­te Frau Is­ler in der Aus­ein­an­der­set­zung mit In­sti­tu­tio­nen und der Durch­set­zung ih­rer In­ter­es­sen starr, kon­fron­ta­tiv und teil­wei­se un­rea­lis­tisch.»

TOP

Synchrone Antworten

Weil die IV-Stel­le wie auch die Uni­kli­nik je­de Kri­tik zu­rück­wie­sen, wand­te sich der TA an die Auf­sichts­or­ga­ne der bei­den In­sti­tu­tio­nen, um nach­zu­fra­gen, ob sie Hand­lungs­be­darf sä­hen. Für die Kon­trol­le der Zür­cher IV-Stel­le ist de­ren Auf­sichts­rat zu­stän­dig. Er wird vom ehe­ma­li­gen FDP-Kan­tons­rat Tho­mas Is­ler prä­si­diert (nicht ver­wandt mit Els­beth Is­ler). Die Ge­schäfts­lei­tung der Uni­kli­nik un­ter­steht der Ge­sund­heits­di­rek­tion von Re­gie­rungs­rat Tho­mas Hei­ni­ger, eben­falls FDP.

Aus der Ge­sund­heits­di­rek­tion kam fol­gen­de Ant­wort: Die Uni­kli­nik ha­be den po­si­ti­ven Ar­beits­fä­hig­keits­be­richt nicht ein­fach ins Ne­ga­ti­ve um­ge­schrie­ben. Zu­erst sei der Be­richt im Hin­blick auf eine selbst­stän­di­ge Er­werbs­tä­tig­keit von Els­beth Is­ler ver­fasst wor­den. Dann ha­be die IV da­rum ge­be­ten, den Be­richt im Hin­blick auf ein An­ge­stell­ten­ver­hält­nis zu über­ar­bei­ten. Da sei al­les kor­rekt ge­lau­fen; die Ge­sund­heits­di­rek­ti­on ha­be «kei­nen An­lass, Mass­nah­men zu er­grei­fen».

Die Ant­wort des Auf­sichts­rats über die IV-Stel­le kam über­ra­schen­der­wei­se nicht von Prä­si­dent Tho­mas Is­ler, son­dern von der IV-Stel­le sel­ber, die er zu be­auf­sich­ti­gen hät­te. Der Prä­si­dent ha­be die Fra­gen zur Stel­lung­nah­me wei­ter­ge­lei­tet, hiess es. Da­nie­la Aloi­si von der IV-Stel­le teil­te dem TA qua­si in eige­ner Sa­che mit, dass die Uni­kli­nik im ers­ten An­lauf die Ar­beits­fä­hig­keit von Els­beth Is­ler «im Hin­blick auf eine selbst­stän­di­ge Tä­tig­keit» be­ur­teilt ha­be. Nach dem miss­lun­ge­nen Auf­bau­trai­ning in Bü­lach ha­be man die Uni­kli­nik be­auf­tragt, «die Res­sour­cen­si­tua­ti­on von Els­beth Is­ler im Hin­blick auf ein An­stel­lungs­ver­hält­nis im ers­ten Ar­beits­markt noch­mals zu be­ur­tei­len». Die in­vol­vier­ten Stel­len und Per­so­nen hät­ten «kor­rekt ge­han­delt», stell­te Aloi­si be­frie­digt fest.

TOP

Bekanntes Muster

Nach die­sen per­fekt auf­ein­an­der ab­ge­stimm­ten Ant­wor­ten frag­te der TA bei der Ge­sund­heits­di­rek­tion nach, ob sie wirk­lich der An­sicht sei, dass die Um­for­mu­lie­rung von Cha­rak­ter­eigen­schaf­ten der Klien­tin Els­beth Is­ler ir­gen­det­was mit dem Un­ter­schied zwi­schen selbst­stän­di­ger Er­werbs­tä­tig­keit und dem An­ge­stell­ten­sta­tus zu tun ha­be.

Die Ge­sund­heits­di­rek­ti­on ant­wor­te­te so: «Die Fä­hig­keit, ein In­ter­es­se und eine ge­wis­se Of­fen­heit für die Vor­be­rei­tung einer selbst­stän­di­gen Er­werbs­tä­tig­keit zu ent­wic­keln, und die Schwie­rig­keit, in­ner­halb fi­xer Struk­tu­ren und Vor­ga­ben in einem An­stel­lungs­ver­hält­nis auf ein Ar­beits­ziel hin­zu­ar­bei­ten», sei­en «Kehr­sei­ten der­sel­ben Mün­ze».

An die IV-Stel­le ging die Fra­ge, ob Els­beth Is­ler da­für ent­schä­digt wer­de, dass man ihr 2010 die Ren­te zu Un­recht ge­kürzt ha­be. Statt einer Ant­wort kam ein Rüf­fel: «Of­fen­bar kön­nen Fak­ten und sach­li­che Dar­le­gun­gen al­ler Stel­len Sie nicht da­von ab­brin­gen, Ih­rer vor­ge­fass­ten The­se zu fol­gen.»

Es zeigt sich ein be­kann­tes Mus­ter: Wenn In­sti­tu­tio­nen kri­ti­siert wer­den, la­den die Auf­se­her die Kri­ti­sier­ten ein, ih­re Sicht der Din­ge dar­zu­le­gen. Was die Kri­ti­sier­ten dann be­haup­ten, er­hebt die Auf­sicht zur Wahr­heit.

* * *