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Die S-Bahn der Zukunft wird einstöckig und hat viele Stehplätze

Von Ruedi Baumann

S-Bahn
Bei der S-Bahn in München erleichtern viele Türen das Ein- und Aussteigen. Die Münchner Züge haben fast doppelt so viele Stehplätze wie Sitzplätze.     Foto: DDP Images

Professor Weid­mann nennt Zah­len: Beim Ein­gang ste­hen bis zu vier Pas­sa­gie­re pro Quad­rat­me­ter, in den Gän­gen bloss zwei. Seit der Ein­füh­rung der S-Bahn wur­de die Zahl der Sit­ze zu­guns­ten von Steh­plät­zen im­mer wie­der re­du­ziert. Bei der zwei­ten S-Bahn-Ge­ne­ra­tion von Sie­mens gibt es noch 1161 Sitz­plät­ze. Die neu­en Stad­ler-Dop­pel­stöc­ker, die ab nächs­ter Wo­che zum Ein­satz kom­men, bie­ten pro 300-Me­ter-Zug nur noch 1070 Sitz­plät­ze an. Da­für wur­den die Drän­gel­be­rei­che ver­grös­sert.

Moderne Ein­stöc­ker wie in der Münch­ner S-Bahn ha­ben pro zwei Ab­tei­le eine Tür. Pro­fes­sor Weid­mann schätzt die Ka­pa­zi­tä­ten der Ein­stöc­ker bei vol­ler Aus­nut­zung der Steh­plät­ze als prak­tisch gleich hoch ein wie bei Dop­pel­stöc­kern. Weil je­doch die Hal­te­zei­ten kür­zer aus­fal­len, re­sul­tie­re eine rund 10 Pro­zent grös­se­re Trans­port­ka­pa­zi­tät.

Bei den Dop­pel­stöc­kern drän­gen die Ste­hen­den in den Ein­gangs­be­reich und be­hin­dern die Ein- und Aus­stei­gen­den.

ZVV-Chef Franz Ka­ger­bau­er rech­net mit einer ma­xi­ma­len Re­duk­tion der Zug­fol­ge­zei­ten von heu­te drei auf zwei Mi­nu­ten (NZZ vom 9. 4.) Ein­stöc­ker sol­len ge­mäss ZVV nur im Kern­be­reich ein­ge­setzt wer­den, auf lan­gen Strec­ken — bei­spiels­wei­se bei der S 12 zwi­schen Brugg und Win­ter­thur — wer­den die Dop­pel­stöc­ker blei­ben. Ein Zeit­ho­ri­zont für die Ein­füh­rung von Ein­stöc­kern ist noch nicht ab­schätz­bar. Laut Re­gie­rungs­rat be­steht eine zu­kunfts­ge­rich­te­te Lö­sung aus einem «Ne­ben­ein­an­der von Ein­stöc­kern und Dop­pel­stöc­kern», die qua­si eine in­ne­re und eine äus­se­re S-Bahn bil­den.

 
 
 
 
 
 
 
 

Abschaffung der 1. Klasse?

Eine wei­te­re mög­li­che Lö­sung wä­re die Ab­schaf­fung der 1. Klas­se zu­guns­ten von mehr Steh­plät­zen —

ähn­lich wie beim Tram oder aus­län­di­schen U-Bah­nen. Ein ent­spre­chen­der Vor­stoss der CVP im Kan­tons­rat ist noch nicht be­ant­wor­tet. Pro­fes­sor Ul­rich Weid­mann ist skep­tisch. «Oh­ne 1. Klas­se ge­winnt man Ka­pa­zi­tä­ten, ver­liert aber wich­ti­ge Kun­den­seg­men­te.» Wenn 1.-Klass-Pas­sa­gie­re auf die S-Bahn ver­zich­ten, kann das ge­mäss Weid­mann einen «Rat­ten­schwanz von Re­ak­tio­nen» aus­lö­sen. Oh­ne 1. Klas­se in der S-Bahn wür­den wohl et­li­che Pas­sa­gie­re auf ihr Ge­ne­ral­abo ver­zich­ten, was wie­der­um zu einer Mehr­be­las­tung der Stras­se füh­ren könn­te.

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Reiter­bahn­höfe als Lö­sung

GLP-Kan­tons­rat Ben­no Scher­rer schlägt in sei­nem Vor­stoss auch die Ein­füh­rung von Rei­ter­bahn­hö­fen vor — wie zum Bei­spiel in Wie­di­kon. Von einem Ge­bäu­de, das quer über den Gleis­an­la­gen liegt, führt ein Zu­gang zu je­dem Per­ron. Gute Er­fah­rung macht man in Mün­chen auch mit der «spa­ni­schen Lö­sung»: Zu­stei­gen­de Pas­sa­gie­re stei­gen von einem Per­ron her ein, wäh­rend die an­de­ren gleich­zei­tig auf ein an­de­res Per­ron aus­stei­gen. Die­ses Prin­zip gibt es auch bei Berg- und Seil­bah­nen. Eine sol­che Lö­sung setzt al­ler­dings vor­aus, dass je­des Gleis zwi­schen zwei Per­rons liegt. In Zü­rich wä­re das we­der im Mu­seums­bahn­hof noch in Sta­del­ho­fen mög­lich.

In ih­rem Vor­stoss re­gen die Grün­li­be­ra­len über­dies an, bei Dop­pel­stöc­kern einen Ein- und Aus­stieg auf zwei Ebe­nen zu prüfen. Der ZVV aber ist skep­tisch. Auf Bahn­hö­fen müss­ten zwei­stöc­ki­ge Per­rons ge­baut wer­den, was ent­we­der kaum mög­lich sei (HB Zürich) oder sehr teu­er wä­re. Tü­ren im obe­ren Teil des Wa­gen­kas­tens sind zu­dem sta­tisch ziem­lich an­spruchs­voll.

 
 
 
 
 

Zürich — Die heu­ti­gen Dop­pel­stöc­ker der Zür­cher S-Bahn sind be­quem — so­fern man einen Sitz­platz hat. Doch die­sen Lu­xus ge­nies­sen in den Stoss­zei­ten häu­fig nur Pas­sa­gie­re, die be­reits in der äus­se­ren Ag­glo­me­ra­tion zu­stei­gen – Wet­zi­kon, Wä­dens­wil, Mei­len, Ba­den. Pend­ler ab Alt­stet­ten, Stett­bach oder Oer­li­kon müs­sen meis­tens ste­hen. Doch ge­ra­de für Steh­platz­pas­sa­gie­re eig­nen sich die heu­ti­gen Dop­pel­stöc­ker schlecht. Die Ein­gangs­be­rei­che sind über­füllt, die Trep­pen neh­men zu viel Platz weg.

Nun skiz­zie­ren Re­gie­rungs­rat und Zür­cher Ver­kehrs­ver­bund (ZVV), wie sie sich die S-Bahn der Zu­kunft vor­stel­len: Ein­stöc­ki­ges Roll­ma­te­ri­al ist eine der Mög­lich­kei­ten zur Lö­sung des Ka­pa­zi­täts­prob­lems. Was auf den ers­ten Blick un­lo­gisch tönt, er­klärt der Re­gie­rungs­rat in der Ant­wort auf einen Vor­stoss der Grün­li­be­ra­len so: Ein­stöc­ker ha­ben mehr Tü­ren und kei­ne Trep­pen. Das Ein- und Aus­stei­gen geht so­mit we­sent­lich schnel­ler. Da­durch kön­nen die Hal­te­zei­ten ver­kürzt und die Takt­ra­ten zwi­schen zwei S-Bah­nen er­höht wer­den.

Ein­stöc­ker für Kurz­strec­ken

Ulrich Weid­mann, ETH Pro­fes­sor für Ver­kehrs­pla­nung und Trans­port­sys­te­me, un­ter­stützt die­se Stoss­rich­tung. Ein­stöc­ker eig­nen sich ge­mäss sei­ner Er­fah­rung für kur­ze Strec­ken bes­ser als Dop­pel­stöc­ker. Kur­ze Strec­ken heisst für Weid­mann: «Et­wa eine Hal­te­stel­le über die Stadt­gren­ze hin­aus.» Auf sol­chen Dis­tan­zen neh­men die Pas­sa­gie­re Steh­plät­ze in Kauf. «Wir müs­sen uns von der Idee ver­ab­schie­den, dass je­der Fahr­gast in der S-Bahn einen Sitz­platz hat», sagt Weid­mann.

Das Prob­lem des Dop­pel­stöc­kers sind die Trep­pen. Weil pro Wa­gen nur zwei Auf­gän­ge mög­lich und sinn­voll sind, gibt es auch nur zwei Tü­ren. Und ge­nau das ist das Prob­lem: Steh­pas­sa­gie­re schät­zen es of­fen­sicht­lich nicht, in den Gän­gen zwi­schen den Sit­zen zu ste­hen. Eini­ge ha­ben Angst, den Zug nicht recht­zei­tig ver­las­sen zu kön­nen; die an­de­ren ödet es an, ne­ben Sit­zen­den zu ste­hen. Des­halb drän­gen sich die meis­ten in den Ein­gän­gen — und ste­hen wie­der­um den Ein- und Aus­stei­gen­den im Weg.