Forschungsplatz Zürich
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Ethnologen reisen für ihre Forschungen meist in fremde Länder. Stefan Leins ist in Zürich geblieben und vor Ort in eine Welt eingetaucht, die vielen so fremd erscheint wie eine ferne Insel: Der Zürcher Ethnologe beschäftigt sich mit den Finanzanalysten, die in den Banken Prognosen über die Zukunft der Wirtschaft und der Börse machen. Er wollte eine Antwort auf die Frage finden, warum die Analysten eine prominente Position haben, obwohl ihre Prognosen selten verlässlich sind.
Die Forschung hat nämlich schon länger gezeigt, dass Analysten den statistischen Zufall kaum übertreffen. Affen oder Katzen haben in Experimenten mit einem Portfolio eine bessere Performance erreicht als menschliche Analysten. Adam Monk beispielsweise ist ein Kapuzineraffe, der für eine US-Zeitung jahrelang Aktienempfehlungen abgegeben hat. Er tippte jeweils wahllos auf Titel in einer langen Liste und lag mit seinen Tipps 37 Prozent über der Performance des Aktienmarkts.
«Mich fasziniert die Frage, warum eine so grosse Branche existiert, die keinen klar erkennbaren wirtschaftlichen Zweck hat», sagt Leins. Er ist Oberassistent am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich. Angefangen hatte alles mit einem Studentenjob. Nach der Matur jobbte Leins bei einer Bank, übernahm administrative Aufgaben. Damals interessierte er sich nicht allzu sehr für die Welt der Prognosen und Kurse. «Die Finanzkrise 2008 hat alles verändert», sagt er, «mir war klar, da passiert etwas Einschneidendes.» Er wollte wissen, was für Prozesse hinter den Kulissen der Banken ablaufen und was es für Menschen sind, die dort die Geschicke des Finanzmarktes zu lenken versuchen.
Die Idee zu seiner Dissertation war geboren. Er bekam sogar eine Forschungserlaubnis bei einer Schweizer Grossbank. Drei Tage pro Woche verbrachte Leins bei der Bank, arbeitete selbst als Analyst und studierte gleichzeitig seine Arbeitskollegen und ihre kulturellen Praktiken. Es war eine «teilnehmende Beobachtung», wie sie Ethnologen häufig anwenden: Der Forscher ist eine Zeit lang Teil eines Systems und versucht durch seine Teilnahme herauszufinden, wie das System funktioniert.
«Ich wurde zum Banker», sagt Leins, schicke Anzüge inklusive. Obwohl sich die neuen Kollegen hilfsbereit zeigten, wollte ihn keiner so richtig in die besten Strategien für die Finanzanalyse einweihen. «Das lag aber nicht daran, dass sie mich als Forscher wahrnahmen», sagt Leins. Die Analysten erzählten ihm vielmehr, jeder müsse eigene Strategien entwickeln, um den Mechanismen der Finanzwelt auf die Schliche zu kommen.
Um ein Gespür für den Markt zu entwickeln, sammeln sie Informationen, nicht nur aus dem Börsenumfeld. «Die Analysten sind allgemein sehr gut informierte, belesene Menschen», sagt Leins. Es ist eine kreative Arbeit, sich Informationen aus allen möglichen Quellen zu beschaffen und daraus Berichte zu verfassen. Aufgefallen ist ihm auch die religiös geprägte Metaphorik. «Der Markt» habe eine fast gottähnliche Stellung.
Wie also können sich die Analysten in ihrer wichtigen Position halten, obwohl auch sie nicht in die Zukunft schauen können? «Es geht darum, dem System etwas Sinnstiftendes zu geben.» Also Ordnung in einem Chaos zu schaffen, das schwer überschaubar ist. Es gibt so viele Entwicklungen, die die Märkte beeinflussen, dass niemand die Wechselwirkungen zuverlässig voraussagen kann.
«Ein guter Analyst ist in erster Linie ein guter Geschichtenerzähler», sagt Leins. Wer die beste Geschichte erzähle, bekomme am meisten Aufmerksamkeit. Dabei bedienten die Analysten ein urmenschliches Bedürfnis. «Die Menschen wollen eine Vorstellung von der Zukunft haben, um im Jetzt aktiv zu sein.» In einer unsicheren Welt brauche es Referenzpunkte in der Zukunft.
Das gesellschaftliche Bild des Bankers hat sich seit der Finanzkrise gewandelt. Der Begriff hat einen negativen Beigeschmack. «Man hört das Schlagwort Gier häufig in einem Atemzug», sagt Leins, «dabei sind das meist durchschnittliche Menschen.» Das Problem liege nicht bei den Persönlichkeiten der Banker, sondern bei den strukturellen Rahmenbedingungen. Um Profit zu generieren, werde risikoreiches Verhalten belohnt.
Das Finanzsystem nehmen viele Menschen, die nicht direkt damit beruflich zu tun haben, als schwer verständliche Welt wahr. «Viele haben das Gefühl, nicht mitreden zu können, weil sie nicht den völligen Durchblick haben», sagt Leins. Dabei sollte man sich von der vermeintlichen Komplexität nicht abschrecken lassen. Schliesslich spiele das Banken- und Finanzwesen für alle eine zu wichtige Rolle, wie etwa die Finanzkrise von 2008 gezeigt habe. Mehr Engagement würde sich Leins auch von den Schulen wünschen. «Die kritische Auseinandersetzung mit der Ökonomie ist in unserem Bildungssystem ein blinder Fleck.»
Für seine Forschungen hat Leins im Sommer den Mercator-Preis im Bereich Geistes- und Sozialwissenschaften bekommen. Seine Dissertation erscheint im Januar in Buchform unter dem Titel «Stories of Capitalism: Inside the Role of Financial Analysts». Der Ethnologe ist bereits in einem nächsten Forschungsprojekt engagiert. Wieder geht es um Macht und Geld. Gerade ist er von einem Forschungsaufenthalt in Sambia zurückgekehrt, wo er Teil eines Teams ist, das den Rohstoffhandel und dessen Zulieferketten untersucht. Obwohl er dieses Mal weiter reist, geht es auch wieder um die Schweiz, die einer der grössten Handelsplätze für Rohstoffe ist.
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Powered by | Stand: 4.10.2017 | © Tages-Anzeiger |