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WISSEN 2. OKTOBER 2017 S:36


Forschungsplatz Zürich

Geschichten­erzähler in der Bank

Der Zür­cher Ethno­lo­ge Ste­fan Leins will wis­sen, wa­rum Fi­nanz­ana­lys­ten mäch­tig sind, ob­wohl ihre Prog­no­sen sel­ten zu­tref­fen. Sein Fa­zit: Gu­te Ana­lys­ten er­zäh­len in er­ster Li­nie gu­te Ge­schich­ten.

Bankanalyst Bankanalyst
Den Markt immer im Blick: In die Zukunft schauen können aber auch die Analysten nicht.

Foto: Thananit / Getty Images

Alexandra Bröhm

Ethno­lo­gen rei­sen für ihre For­schun­gen meist in frem­de Län­der. Ste­fan Leins ist in Zü­rich ge­blie­ben und vor Ort in eine Welt ein­ge­taucht, die vie­len so fremd er­scheint wie eine fer­ne In­sel: Der Zür­cher Ethno­lo­ge be­schäf­tigt sich mit den Fi­nanz­ana­lys­ten, die in den Ban­ken Pro­gno­sen über die Zu­kunft der Wirt­schaft und der Bör­se ma­chen. Er woll­te eine Ant­wort auf die Fra­ge fin­den, wa­rum die Ana­lys­ten eine pro­mi­nen­te Po­si­ti­on ha­ben, ob­wohl ih­re Pro­gno­sen sel­ten ver­läss­lich sind.

Die For­schung hat näm­lich schon län­ger ge­zeigt, dass Ana­ly­sten den sta­tis­ti­schen Zu­fall kaum über­tref­fen. Af­fen oder Kat­zen ha­ben in Ex­pe­ri­men­ten mit einem Port­fo­lio eine bes­se­re Per­for­man­ce er­reicht als mensch­li­che Ana­lys­ten. Adam Monk bei­spiels­wei­se ist ein Ka­pu­zi­ner­af­fe, der für eine US-Zei­tung jah­re­lang Ak­ti­en­em­pfeh­lun­gen ab­ge­ge­ben hat. Er tipp­te je­weils wahl­los auf Ti­tel in einer lan­gen Li­ste und lag mit sei­nen Tipps 37 Pro­zent über der Per­for­man­ce des Ak­ti­en­markts.

«Mich fas­zi­niert die Fra­ge, wa­rum eine so gros­se Bran­che exi­stiert, die kei­nen klar er­kenn­ba­ren wirt­schaft­li­chen Zweck hat», sagt Leins. Er ist Ober­as­si­stent am In­sti­tut für So­zi­al­an­thro­po­lo­gie und Em­pi­ri­sche Kul­tur­wis­sen­schaft der Uni­ver­si­tät Zü­rich. An­ge­fan­gen hat­te al­les mit einem Stu­den­ten­job. Nach der Ma­tur jobb­te Leins bei einer Bank, über­nahm ad­mi­ni­stra­ti­ve Auf­ga­ben. Da­mals in­ter­es­sier­te er sich nicht all­zu sehr für die Welt der Pro­gno­sen und Kur­se. «Die Fi­nanz­kri­se 2008 hat al­les ver­än­dert», sagt er, «mir war klar, da pas­siert et­was Ein­schnei­den­des.» Er woll­te wis­sen, was für Pro­zes­se hin­ter den Ku­lis­sen der Ban­ken ab­lau­fen und was es für Men­schen sind, die dort die Ge­schic­ke des Fi­nanz­mark­tes zu len­ken ver­su­chen.

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Vom Forscher zum Banker

Die Idee zu sei­ner Dis­ser­ta­ti­on war ge­bo­ren. Er be­kam so­gar eine For­schungs­er­laub­nis bei einer Schwei­zer Gross­bank. Drei Ta­ge pro Wo­che ver­brach­te Leins bei der Bank, ar­bei­te­te selbst als Ana­lyst und stu­dier­te gleich­zei­tig sei­ne Ar­beits­kol­le­gen und ih­re kul­tu­rel­len Prak­ti­ken. Es war eine «teil­neh­men­de Beo­bach­tung», wie sie Ethno­lo­gen häu­fig an­wen­den: Der For­scher ist eine Zeit lang Teil eines Sys­tems und ver­sucht durch sei­ne Teil­nah­me her­aus­zu­fin­den, wie das Sys­tem funk­tio­niert.

«Ich wur­de zum Ban­ker», sagt Leins, schic­ke An­zü­ge in­klu­si­ve. Ob­wohl sich die neu­en Kol­le­gen hilfs­be­reit zeig­ten, woll­te ihn kei­ner so rich­tig in die bes­ten Stra­te­gi­en für die Fi­nanz­ana­ly­se ein­wei­hen. «Das lag aber nicht da­ran, dass sie mich als For­scher wahr­nah­men», sagt Leins. Die Ana­lys­ten er­zähl­ten ihm viel­mehr, je­der müs­se eige­ne Stra­te­gi­en ent­wic­keln, um den Me­cha­nis­men der Fi­nanz­welt auf die Schli­che zu kom­men.

Um ein Ge­spür für den Markt zu ent­wic­keln, sam­meln sie In­for­ma­tio­nen, nicht nur aus dem Bör­sen­um­feld. «Die Ana­lys­ten sind all­ge­mein sehr gut in­for­mier­te, be­le­se­ne Men­schen», sagt Leins. Es ist eine krea­ti­ve Ar­beit, sich In­for­ma­tio­nen aus al­len mög­li­chen Quel­len zu be­schaf­fen und dar­aus Be­rich­te zu ver­fas­sen. Auf­ge­fal­len ist ihm auch die re­li­gi­ös ge­präg­te Me­ta­pho­rik. «Der Markt» ha­be eine fast gott­ähn­li­che Stel­lung.

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Wie al­so kön­nen sich die Ana­lys­ten in ih­rer wich­ti­gen Po­si­ti­on hal­ten, ob­wohl auch sie nicht in die Zu­kunft schau­en kön­nen? «Es geht dar­um, dem Sys­tem et­was Sinn­stif­ten­des zu ge­ben.» Al­so Ord­nung in einem Cha­os zu schaf­fen, das schwer über­schau­bar ist. Es gibt so vie­le Ent­wick­lun­gen, die die Märk­te be­ein­flus­sen, dass nie­mand die Wech­sel­wir­kun­gen zu­ver­läs­sig vor­aus­sa­gen kann.

«Ein gu­ter Ana­lyst ist in er­ster Li­nie ein gu­ter Ge­schich­ten­er­zäh­ler», sagt Leins. Wer die be­ste Ge­schich­te er­zäh­le, be­kom­me am mei­sten Auf­merk­sam­keit. Da­bei be­dien­ten die Ana­lys­ten ein ur­mensch­li­ches Be­dürf­nis. «Die Men­schen wol­len eine Vor­stel­lung von der Zu­kunft ha­ben, um im Jetzt ak­tiv zu sein.» In einer un­si­che­ren Welt brau­che es Re­fe­renz­punk­te in der Zu­kunft.

Das ge­sell­schaft­li­che Bild des Ban­kers hat sich seit der Fi­nanz­kri­se ge­wan­delt. Der Be­griff hat einen ne­ga­ti­ven Bei­ge­schmack. «Man hört das Schlag­wort Gier häu­fig in einem Atem­zug», sagt Leins, «da­bei sind das meist durch­schnitt­li­che Men­schen.» Das Prob­lem lie­ge nicht bei den Pe­rsön­lich­kei­ten der Ban­ker, son­dern bei den struk­tu­rel­len Rah­men­be­din­gun­gen. Um Pro­fit zu ge­ne­rie­ren, wer­de ri­si­ko­rei­ches Ver­hal­ten be­lohnt.

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Das Fi­nanz­sys­tem neh­men vie­le Men­schen, die nicht di­rekt da­mit be­ruf­lich zu tun ha­ben, als schwer ver­ständ­li­che Welt wahr. «Vie­le ha­ben das Ge­fühl, nicht mit­re­den zu kön­nen, weil sie nicht den völ­li­gen Durch­blick ha­ben», sagt Leins. Da­bei soll­te man sich von der ver­meint­li­chen Kom­ple­xi­tät nicht ab­schrec­ken las­sen. Schliess­lich spie­le das Ban­ken- und Fi­nanz­we­sen für al­le eine zu wich­ti­ge Rol­le, wie et­wa die Fi­nanz­kri­se von 2008 ge­zeigt ha­be. Mehr En­ga­ge­ment wür­de sich Leins auch von den Schu­len wün­schen. «Die kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit der Öko­no­mie ist in un­se­rem Bil­dungs­sys­tem ein blin­der Fleck.»

Für sei­ne For­schun­gen hat Leins im Som­mer den Mer­ca­tor-Preis im Be­reich Geis­tes- und So­zi­al­wis­sen­schaf­ten be­kom­men. Sei­ne Dis­ser­ta­ti­on er­scheint im Ja­nu­ar in Buch­form un­ter dem Ti­tel «Sto­ries of Ca­pi­ta­lism: In­si­de the Ro­le of Fi­nan­cial Ana­lysts». Der Ethno­lo­ge ist be­reits in einem näch­sten For­schungs­pro­jekt en­ga­giert. Wie­der geht es um Macht und Geld. Ge­ra­de ist er von einem For­schungs­auf­ent­halt in Sam­bia zu­rück­ge­kehrt, wo er Teil eines Teams ist, das den Roh­stoff­han­del und des­sen Zu­lie­fer­ket­ten un­ter­sucht. Ob­wohl er die­ses Mal wei­ter reist, geht es auch wie­der um die Schweiz, die einer der gröss­ten Han­dels­plät­ze für Roh­stof­fe ist.

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